Kinder sind von Natur aus quietschlebendig, aufgekratzt, trotzig, zornig – das alles ist gesund, solange die Balance stimmt. Bei manchen aber gerät
das Verhalten außer Kontrolle. Fachärzte sprechen von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, wenn unaufmerksames, impulsives, oft auch hyperaktives Verhalten über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten vorliegt und bereits im Alter von sieben Jahren oder jünger aufgetreten ist. Zudem muss ersichtlich sein, dass das Kind durch sein Verhalten im Alltag beeinträchtigt ist.
Vorurteil: ADHS durch schlechte Erziehung
Ursachen und Krankheitsverlauf sind individuell und vielschichtig. Hinzu kommt, dass ADHS nicht so einfach wie ein gebrochener Arm „repariert“ werden kann – Gründe genug für Mythen und Vorurteile. „Das schlimmste Vorurteil ist, dass ADHS ein Produkt schlechter Erziehung ist“, sagt Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie am Uniklinikum Frankfurt.
Ursachenforschung
Die Entstehung von ADHS ist noch nicht vollständig geklärt. Es scheint sich jedoch um eine neurobiologische Funktionsstörung im Gehirn zu handeln. In den Regionen, die für Konzentration, Wahrnehmung und Impulskontrolle zuständig sind, ist das Gleichgewicht wichtiger Botenstoffe (Dopamin, Neuroadrenalin, Serotonin) und damit die Informationsverarbeitung gestört. Eine Fülle unsortierter, unzureichend gefilterter Reize überflutet das Gehirn und führt zu den typischen Auffälligkeiten – unaufmerksames, impulsives und hyperaktives Verhalten. Auch die Gene spielen eine Rolle sowie Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen und Umweltfaktoren. Erkannt wird ADHS häufig erst, wenn Kinder sich zum ersten Mal in ein Regelwerk äußerer Strukturen einfügen müssen, wie Kindergarten oder Schule.
Komplexe Diagnose ADHS
Statistisch wird die Diagnose ADHS mit wachsender Häufigkeit gestellt – voreilig, sagen kritische Stimmen. Denn nur bei den wenigsten Kindern, die Lernschwierigkeiten haben, anecken, unruhig oder aggressiv sind, besitzen diese Eigenschaften einen Krankheitswert. Eine Diagnose muss sorgfältig durch einen Facharzt erfolgen, auch die Einschätzung von Eltern, Erziehern oder Lehrer ist wichtig. In der Behandlungsleitlinie heißt es: „Um eine ADHS-Diagnose vergeben zu können, müssen die Symptome (…) und die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen auftreten.“ Ist nur ein Bereich betroffen, liegt die Ursache vermutlich woanders.
Eine Kombination von Therapien
So komplex wie das Krankheitsbild sind auch die Behandlungsoptionen. Als Erfolg versprechend gilt das „multimodale Konzept“: ein aus Therapiebausteinen verschiedener Disziplinen individuell zusammengesetztes Behandlungsspektrum aus psychosozialen, pädagogischen, psychotherapeutischen und medikamentösen Maßnahmen. Dabei werden auch Familie und persönliches Umfeld mit einbezogen. Ein zentrales Element der nicht-medikamentösen Therapie ist das „Elterntraining“. In dieser psychologisch-pädagogischen Schulung lernen Eltern, ihr Kind besser zu verstehen, es in positivem Verhalten zu bestärken und in Problemsituationen zu Hause richtig zu reagieren. Angeboten werden „Elterntrainings“ von Verhaltenstherapeuten oder Universitätskliniken.
Und ab wann Medikamente?
Studien zeigen, dass die Einnahme von Medikamenten die wirksamste Behandlung ist, um die Kernsymptome von ADHS zu mildern. Der Wirkstoff Methylphenidat etwa (z. B. Medikinet, Ritalin) reguliert das Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn. Die Kinder werden ausgeglichener, sind konzentrierter und können ihren (Schul-)Alltag leichter meistern. Damit entsteht oft erst die Voraussetzung für nicht-medikamentöse Therapien. Dennoch sind Medikamente bei ADHS auch umstritten und für sich alleine nicht die Lösung. Die Leitlinien der Fachgesellschaften empfehlen, sie nur bei ausgeprägten Symptomen und frühestens ab sechs Jahren einzusetzen.
Mozart: Genie dank ADHS?
Mit ADHS haben viele Patienten noch im Erwachsenenalter zu kämpfen. Bei zehn Prozent bleibt das Krankheitsbild vollständig erhalten, bei weiteren 35 Prozent ist der Alltag beeinträchtigt – unbewältigte Wäscheberge, ignorierte Termine, Beziehungsprobleme, Depressionen, Süchte. Die positive Seite: Erwachsene mit ADHS gelten oft als lebendig, spontan und kreativ. So vermuten Experten, dass zum Beispiel Mozart unter ADHS gelitten hat.
Digitaler Austausch für mehr Therapieerfolg
ADHS beeinträchtigt nicht nur das Leben des betroffenen Kindes, sondern auch das der gesamten Familie sowie des gesellschaftlichen Umfelds. Sehr wichtig für eine erfolgreiche Therapie ist der permanente Austausch zwischen Eltern, Lehrern, Ärzten, Therapeuten etc. Ein neues digitales Tool setzt dort an. Auf Basis einer aktuellen Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften sollen mithilfe von Web- und Mobile-Applikationen „Runde Tische“ für ADHS-Betroffene koordiniert, moderiert und begleitet werden. „Im Mittelpunkt von ADHS Digital steht die Vernetzung des sozialen und fachlichen Umfelds der Betroffenen“, sagt Kevin Gerber von doc.coach. Mehr Infos dazu gibt es hier.
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