Beckenbodentraining im Alltag

Heilpraktikerin und Beckenbodenexpertin Irene Lang-Reeves gibt Tipps, wie wir Beckenbodentraining leicht in den Alltag integrieren können

Beckenbodentraining im Alltag

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„BiB“ – Beckenboden in Bewegung: So nennt Irene Lang-Reeves die von ihr entwickelte Methode zum Beckenbodentraining. Seit etwa 20 Jahren beschäftigt sie sich mit dem Beckenboden und hat mehrere Bücher darüber geschrieben. Im Telefoninterview mit so gesund gibt Sie Tipps für den Alltag.

Frau Lang-Reeves, warum ist Beckenbodentraining so wichtig?

Beckenbodentraining ist so wichtig, weil der Beckenboden eine Schwachstelle in der Körperstatik ist. Wir Frauen haben diese große Öffnung unten, die muskulär verschlossen werden muss, und da wirkt das ganze Leben die Schwerkraft drauf. Dass Schwangerschaften und Geburten eine Belastung darstellen, ist ja bekannt.

Ein wichtiger Faktor ist aber auch, dass wir sehr bewegungsarm leben, das heißt: mit geringer Körperspannung. Wenig Bewegung bedeutet schwache Muskeln und wenig Kraft. Für den Beckenboden stellt das ein besonderes Problem dar: Wenn Sie ihren Bizeps nicht trainieren, können Sie nicht viele Hanteln heben, ok. Wenn Sie Ihren Beckenboden nicht trainieren, dann ist er schwach, wird aber durch die Schwerkraft trotzdem fortwährend belastet, was ihm schadet.

Deshalb sage ich immer: Beckenbodentraining bedeutet, ihn zu stärken und zu schützen. Und das geht in den meisten Fällen Hand in Hand.

Wie oft sollte man Beckenbodentraining machen?

Das ist so eine Geschichte. Motivieren Sie mal eine Frau dazu, jeden Tag ihre Matte auszulegen und Beckenbodenübungen zu machen! Andererseits ist es total wichtig, ständig aktiv etwas für eine starke Körperbasis zu tun. Und genau deswegen ist das Alltagstraining so genial.

Und wie kann man Beckenbodentraining in den Alltag integrieren? Haben Sie dafür ein Beispiel?

Wie sitzen Sie denn jetzt gerade?

Ich sitze vorn auf der Stuhlkante leicht nach vorn gebeugt. Aber ehrlich gesagt nur, damit ich besser an das Aufnahmegerät herankomme.

Normalerweise sitzen die Leute weit hinten, und die Wirbelsäule sackt trotz Rückenstütze tendenziell mehr oder weniger zusammen. Dadurch bekommt der Beckenboden einen schwachen Tonus. Wenn man sich hingegen auf der Stuhlkante aufs vordere Drittel setzt und die Beine in Schrittstellung positioniert, das heißt ein Bein weiter hinten und das andere so, dass das Knie über dem Mittelfuß steht, dann ist das vom Gefühl ein bisschen so, als würde man auf dem Sprung sein. Und das ist eine Haltung, bei der der Beckenboden eine gute Grundspannung hat.

Das heißt, vorn auf der Sitzkante ist eigentlich eine Sitzhaltung, die sowohl für den Beckenboden als auch für den Rücken gut ist?

Das Beckenbodentraining für den Alltag, das ich mache, ist quasi eine vollwertige Rückenschule, und auch gut für die Beine und die Füße und das Fußgewölbe. Und ja, die Sitzhaltung auf der vorderen Hälfte des Stuhles ist eine günstige Variante – aber nicht die einzige. Wichtig ist, die Sitzhaltung oft zu variieren.

Haben Sie noch ein Beispiel für eine Alltagsübung?

 Ich habe in meinem Training viele Übungen, die ich „Bahnsteigübungen“ nenne. Die einfachste ist die: Stehen Sie zuerst hüftbreit parallel und lösen Sie die Knie. Stellen Sie jetzt einen Fuß einen halben Schritt nach vorne und 45 Grad ausgedreht. Dann verlagern Sie das Gewicht ganz langsam und bewusst aufs vordere Bein und dann wieder zurück, und wieder vor und zurück. Ganz langsam. Nicht schnell hin- und herschwanken. Denn Sie wollen ja nicht, dass die anderen Leute auf dem Bahnsteig meinen, Sie hätten in der Früh schon getankt (lacht)

Durch die Bewegung kommt schon eine tragende Grundspannung in den Beckenboden. Und das ist komplett anders als wenn man sich so hinstellt, wie man es oft sieht; nämlich Standbein, Spielbein und die Hüfte abgeknickt. Also einfach das Gewicht verlagern, langsam und bewusst, und hinspüren, wie sich in der Körperbasis die Spannung verändert.

Was kann man im Alltag noch tun?

Treppensteigen und Gehen mit aktivem Beckenboden, das sind die wichtigsten Alltagsübungen. Wenn man sich das mal angewöhnt hat, dann trainiert man wirklich den ganzen Tag. Was Sie vorhin gefragt haben: Wie oft sollte man denn trainieren? Im Prinzip jeden Tag, häufig, und am besten einfach dadurch, dass man sich körperaktive Bewegungsgewohnheiten angewöhnt.

Wie erklären Sie jemandem, der noch kein Beckenbodentraining gemacht hat, wie man den Beckenboden findet?

Ja, das ist immer ein bisschen schwierig. Der Beckenboden ist ein Teil unserer tiefen Muskulatur. Ich erkläre das gerne so: Der ist erst einmal im Gehirn nicht als ansteuerbar verdrahtet. Aber man kann diese Leitung legen. Und dafür ist eine Anleitung sinnvoll. Denn die meisten Leute, die Anleitungen nur lesen, die sind sich dann einfach trotzdem nicht sicher. Wenn ich den Beckenboden aktiviere, dann ist das eine so kleine Bewegung, dass die meisten sich das nicht glauben, dass sie es richtig gemacht haben.

Die beste Fernanleitung, die ich geben kann, ist die: entweder die Sitzhöcker zusammenziehen oder sich vorstellen, die Körperöffnungen sanft nach innen zu ziehen. Und dabei darauf achten, ob so ein Gefühl von innerer Aufrichtung entsteht. Das klingt zwar ein bisschen esoterisch, aber genau das ist es: Mit dem Beckenboden aktiviere ich praktisch auch andere Muskeln der tiefen Muskulatur, und das macht genau diese innere Aufrichtung. Da merkt man gleich: Ah, ich stehe anders da! Ich sitze aufrechter! Und dann muss man es sich sozusagen selbst glauben, dass das mit einem aktiven Beckenboden zu tun hat, weil die Bewegung nicht als große Muskelanspannung spürbar ist.

Was sind die häufigsten Fehler, die man beim Beckenbodentraining machen kann?

Es gibt einen Fehler, der sich relativ gravierend auswirken kann: die gerade Bauchmuskulatur zu stark anzuspannen. Die ist für die Bauchpresse zuständig. Wenn die stark angespannt wird, dann entsteht hoher Druck im Bauchraum. Dieser Druck muss irgendwohin, und die schwächste Stelle ist unten. Das ist jetzt weniger ein Problem für den Beckenboden, sondern mehr für die Unterleibsorgane, weil es zu Senkungen kommen kann, etwa der Gebärmutter. Und wenn eine Frau schon eine Senkung hat, wird die durch dauernde Bauchpresse verschlimmert. Ich habe schon öfter ältere Damen gehabt mit schlechter Körperwahrnehmung, die machen Beckenbodenübungen und pressen dabei sehr stark. Das ist nicht hilfreich.

Gibt es Utensilien, die beim Beckenbodentraining helfen können und die Sie empfehlen?

Das beste Utensil, das ich empfehle, ist ein Ballkissen. Das sieht aus wie eine aufgeblasene Frisbeescheibe. Große Sitzbälle sind unpraktisch im Büro, weil sie wegrollen können. Aber die Ballkissen sind vielseitig einsetzbar: Wenn man sich draufsetzt, muss der Körper ständig subtil die Haltung stabilisieren. Das aktiviert den Beckenboden. Man kann auch die Füße draufstellen, dann muss der Körper wieder auf andere Weise stabilisieren. Und man kann das Kissen zwischen Rücken und Stuhllehne klemmen. So habe ich drei verschiedene Arten, das Sitzen zu variieren, und ein wirklich gutes Training, das vielfältig nützt und vor allem nebenbei funktioniert.

Sollten eigentlich auch Männer Beckenbodentraining machen?

Männer kommen normalerweise nur zum Beckenbodentraining, wenn sie nach einer Prostataoperation inkontinent sind. Sonst haben sie selten Probleme. Für sie würde ein Beckenboden-Alltagstraining aber als Rückenschule Sinn machen.

Ansonsten geht es bei Männern vor allem darum, die Muskulatur da unten zu entspannen, weil sie oft zu verspannt sind. Es gibt einen Gesundheitssurvey aus dem Jahr 1998, nach dem 6 Prozent der Männer in Deutschland Unterleibsschmerzen haben. Auf einem Kontinenzkongress ist darüber diskutiert worden, ob ein Teil davon auf einen verspannten Beckenboden zurückzuführen sei. Später in Altersheimen und Pflegeheimen haben auch Männer Inkontinenzprobleme. Da ist dann auch bei Männern die Beckenbodenschwäche ein Thema.

Irene Lang-Reeves
Irene Lang-Reeves

© Frank Fischer

ist Autorin der Bücher „Beckenboden – wie Sie den Alltag zum Training nutzen“ und „Beckenboden Training“. Sie ist studierte Biologin, ausgebildete Heilpraktikerin und hat verschiedene bewegungstherapeutische Fortbildungen absolviert. Sie betreibt eine eigene Praxis als Heilpraktikerin für Körpertherapie in München.
Webseite: beckenboden-in-bewegung.de
 

 

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