Frau Stehlin, das Wort bipolar in bipolare Störung steht für die zwei entgegengesetzten Pole der Erkrankung, für die Niedergeschlagenheit der Depression und das Hochgefühl oder den Wahn der Manie. Wann haben Sie bei sich festgestellt, dass Sie an einer bipolaren Störung leiden?
Rückblickend kenne ich Depressionen seit meiner Jugend. Aber meine Stimmungen wurden damals fehl gedeutet, zum Beispiel als Pubertät. Vor neun Jahren hatte ich dann eine Art körperlichen Zusammenbruch, so dass ich zum Arzt ging, der zunächst einen Burnout, später dann eine schwere Depression diagnostizierte.
Wie kommt man von der Diagnose der Depression auf das andere Ende des Spektrums, die Manie?
Eine bipolare Störung zu erkennen ist in der Tat ein großes Problem. Oftmals zeigt es sich mit der Zeit – und das kann dauern, im Schnitt ungefähr sieben Jahre. Die Einsicht in die Krankheit ist für die meisten Betroffenen sehr schwer. Viele sind einfach froh, wenn die Bedrückung der Depression abklingt und möchten sich dann nicht damit befassen, dass auch der Zustand des Hochgefühls krankhafte Züge annehmen kann. Bei mir wurde die Diagnose erst vor fünf Jahren nach einer manischen Phase mit starker Psychose gestellt.
Wie fühlt sich eine manische Phase an?
Viele Menschen mit einer bipolaren Störung schaffen in den depressiven Phasen kaum etwas, so geht es auch mir. Tritt man von der Depression in die leichte Manie, die sogenannte Hypomanie, fühlt man sich sehr gut. Man arbeitet liegen gebliebene Dinge ab, ist voller Energie und Tatendrang, braucht wenig Schlaf, ist kontaktfreudig und selbstsicher. Aber das kann schnell in Leichtsinn umschlagen, man gibt vielleicht zu viel Geld aus, trinkt zu viel Alkohol, ist hemmungsloser. In der Manie potenziert sich dann alles. In dem Hollywoodfilm Mister Jones steht der Hauptdarsteller auf einem Hausdach und meint, er könne fliegen. Auch Wahnerleben in Form einer Psychose kann zur Manie gehören. Ich bin ja in der Beratung tätig und höre von Angehörigen oder Betroffenen häufiger von solchen quälenden Wahnvorstellungen, beispielsweise vom religiösen Wahn.
Wie lang kann eine Manie anhalten?
Es gibt das Ultra Rapid Cycling oder das Ultra Ultra Rapid Cycling. In beiden Fällen sind die Zyklen so kurz getaktet, dass sie sich innerhalb weniger Tage oder Stunden abspielen. Aber eine Manie kann auch zwischen wenigen Wochen und vielen Monaten andauern. Ein sehr extremer Zustand wird natürlich meistens dadurch unterbunden, dass die Menschen dazu gebracht werden, sich in einer Klinik vorzustellen. Oder, sofern eine Gefahr für andere oder das eigene Leben besteht, es zu einer Zwangseinweisung kommt. Besonders quälend sind Mischzustände, in denen Symptome beider Extreme gleichzeitig auftreten und unerträgliche Spannungszustände verursachen. Hier ist die Suizidgefahr am höchsten.
Gibt es Medikamente, die helfen?
Ja, es gibt Medikamente für die Akutbehandlung und solche für die Prophylaxe. Sie müssen, ähnlich wie bei chronischen körperlichen Erkrankungen, dauerhaft eingenommen werden und haben aber natürlich Nebenwirkungen, eine Gewichtszunahme zum Beispiel oder das Gefühl, alles wie durch Watte wahrzunehmen. Ich selbst nehme keine Medikamente, einfach, weil sich für mich nichts finden ließ, was verlässlich hilft. Ich habe aber eine Bedarfsmedikation. Das heißt, wenn es gar nicht anders geht, ziehe ich mich damit selbst aus dem Verkehr, um mich vor Schlimmerem zu bewahren. Aber das ist keine Medikation für den Alltag, denn damit wäre ich nicht fähig, am normalen Leben teilzuhaben.
Wie kommen Sie im Alltag ansonsten klar?
Ich habe für mich mit der Zeit einen Weg gefunden, mit meinen Phasen zu leben. Oft bemerke ich rechtzeitig, wenn sich eine Depression oder eine Manie ankündigt, und dann versuche ich dem entgegen zu steuern. Durch Entspannung, Achtsamkeit etwa. Ich mache Atemmeditationen und versuche, Stress zwar nicht komplett zu vermeiden, aber doch gering zu halten. Außerdem habe ich gelernt, nicht immer über meine Grenzen zu gehen. Früher hat das bei mir nämlich zum Entstehen einer Phase beigetragen. Und dann kümmere ich mich um die Aufarbeitung meiner eigenen Geschichte, um Selbstreflexion und Persönlichkeitsentwicklung.
Eine Therapie bei einem Psychologen ist also sinnvoll?
Ich denke schon. Vor allem hilft eine Therapie, die Krankheit zu akzeptieren, Frühwarnzeichen richtig zu erkennen und einen Krisenplan aufzustellen. Viele Bipolare erleben Schuldgefühle, wenn sie in der Manie etwas angestellt haben. Eine Therapie kann dann helfen, die Schuldgefühle zu relativieren.
Ist Ihnen die Einsicht, an einer bipolaren Störung erkrankt zu sein, schwer gefallen?
Ja, es ist schon sehr schwer. Wenn man heutzutage sagt, man leidet unter einem Burnout, ist das in der Leistungsgesellschaft weitgehend anerkannt – schließlich hat man bis zur Erschöpfung gearbeitet. Auch die Depression ist ein Stück weit in der Gesellschaft angekommen, doch auch hier fehlt es noch an Aufklärung. Krasser sieht es bei der bipolaren Störung oder bei Psychosen aus, die bei bipolarer Störung auch auftreten können und die für die Schizophrenie typisch sind. Das ist gesellschaftlich deutlich stigmatisiert. Wer eine entsprechende Diagnose erhält, ist meistens auch schon mitten in der Selbststigmatisierung.
Wie wichtig sind die Angehörigen?
Wenn ein Partner Bescheid weiß, bringt er vielleicht mehr Verständnis auf. Aber es bleibt eine Herausforderung, und die vermutlich wenigsten Bipolaren leben in einer langen Beziehung. Viele Ehen zerbrechen, und auch bei mir und meinem Mann stand es auf der Kippe. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür, dass er mich und uns nicht aufgegeben hat. Das war und ist nicht immer einfach. Es kommt letztlich auch auf die Ausprägung der eigenen Erkrankung an, ob der Alltag in der Familie gelingt.
Sie haben eine Tochter, die heute zwölf Jahre alt ist. Wie beziehen Sie sie in den Umgang mit Ihrer Krankheit ein?
Als ich vor neun Jahren die Diagnose Depression erhielt, habe ich versucht, sie so gut wie möglich aufzuklären, zum Beispiel durch Bilderbücher oder Filme. Da konnte ich dann sagen: „Heute ist wieder ein Tag, an dem es mir so geht wie dem traurigen Schaf in dem Buch.“ Ich denke, für mein Kind war und ist das hilfreich. Ich bin ja selbst Tochter einer depressiven, alkohol- und medikamentenabhängigen Mutter und habe erlebt, wie schlimm es sich anfühlt, wenn man keine Auskünfte erhält und als Kind ohnehin dazu neigt, die Schuld bei sich zu suchen. Entsprechend bin ich sehr für einen transparenten Umgang mit der Krankheit. Aber das bedeutet natürlich auch, dass das Kind sehr offen ist und vielleicht in der Schule davon erzählt. Damit muss man dann klar kommen. Aber für Angehörige, insbesondere für Kinder, ist es immer schwer, und es gibt leider bisher auch viel zu wenig Möglichkeiten, sie in die Therapie mit einzubeziehen und zu wenig spezifische Angebote für Kinder psychisch kranker Eltern.
Was raten Sie jemandem, der Angst hat, unter einer bipolaren Störung zu leiden?
Ich denke, das wichtigste ist, sich zu informieren. Auf unserer Internetseite haben wir einen Selbsttest, der natürlich keine Diagnose ersetzt, aber vielleicht gewinnt man erste Anhaltspunkte, und wenn ja, sollte man sich zu einem Arzt begeben. Es gibt tolle Hausärzte, die sich zu psychischen Erkrankungen weiterbilden und gut auskennen. Andere wiederum verkennen psychische Störungen über Jahre hinweg. Spätestens dann ist man bei einem Facharzt besser aufgehoben. Die Psychoedukation, das Wissen über die eigene Krankheit, ist außerdem zentral. Je mehr man weiß, desto weniger bedrohlich wird die Erkrankung. Und als Experte seiner eigenen Störung kann man gut mit dem Arzt oder der Ärztin einen Weg des Umgangs damit finden. Hier wäre es wünschenswert, wenn die Ärzte mehr Augenhöhe zuließen, und den Patienten, sofern er das wünscht und dazu in der Lage ist, in die Behandlungsentscheidungen mit einbeziehen. Das sichert letztlich den Behandlungserfolg.
Danke für das Gespräch.
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