Frau Zeddies, wann wurde bei Ihnen die Diagnose Borderline gestellt?
Als ich ungefähr 14 Jahre alt war, habe ich eine Familienberatungsstelle aufgesucht. Damals litt ich unter depressiven Episoden, ich habe viel über den Tod nachgedacht, geweint, ich war sehr traurig und fühlte mich mir selbst entfremdet. Ich habe mich auch mit Glasscherben verletzt. Meine Gefühle waren oft so übermächtig, und da ich damals noch kein Werkzeug hatte, mit meiner besonderen Sensibilität umzugehen, war das Ritzen eine Art Brücke von meinem Körper zur Seele. Es war wie eine angenehme Ohrfeige, die Druck rausgenommen hat. Eine Psychologin äußerte dann die Diagnose.
Wie ging es Ihnen damit?
Für mich war es ein Segen! Denn endlich hatte ich einen Namen für meinen Zustand und meine Gefühle. Ich hab sehr viel gelesen – das Buch: „Hans-mein-Igel-Syndrom“ zum Beispiel. In den Beschreibungen konnte ich mich wiederfinden. Dass ich nicht alleine bin, war sehr entlastend.
Wie hat Ihre Familie reagiert?
Mein Onkel ist Psychologe, und für ihn war es schwer zu ertragen. Borderline gehörte mal zu den Psychopathien, und er hatte gelernt, dass es etwas ganz Schlimmes ist. Meine restliche Familie war überwiegend hilflos. Ich war 1995 drei Monate lang in der Psychiatrie der Berliner Charité, und das Personal hatte meinen Eltern gesagt, dass ich mich irgendwo zwischen Neurose und Psychose befindet. Damit konnten sie natürlich nichts anfangen. Gleichzeitig machten sie sich starke Selbstvorwürfe. Ganz besonders meine Mutter hat sich immer gefragt, was sie falsch gemacht habe.
Haben Ihre Mutter oder Ihr Vater denn etwas „falsch“ gemacht? Anders gefragt: Kennen Sie den Auslöser für Ihre Borderline-Erkrankung?
Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen, mein Vater war oft nicht zu Hause, und meine Mutter hat sich, nicht zuletzt aufgrund der äußeren Umstände, sehr stark mit sich selbst beschäftigt. Sie litt unter Depressionen. Bei mir führte das dazu, dass ich immer dachte, ich muss etwas sehr Heftiges machen, damit sie mich überhaupt wahrnimmt. Diese Erfahrungen haben sicher zur Entstehung der Krankheit beitragen – auch wenn natürlich keiner in dem Sinne schuld ist oder die Situation absichtlich herbeigeführt hat. In meiner eigenen Arbeit als Therapeutin erlebe ich auch immer wieder, dass Menschen, deren Eltern in den ersten drei Lebensjahren sehr abwesend waren, dadurch ein Stück traumatisiert sind.
Borderline wird häufig mit der Aussage: „Komm her, geh weg umschrieben“.
Ja, genau. Man wünscht sich die Nähe und Liebe, hat aber, wenn man sie bekommt, Angst davor, verschlungen zu werden und keine Luft zu bekommen. Ich denke, das hat mit dem ambivalent-unsicheren Bindungsstil zu tun, den man in der Kindheit erwirbt. Optimal ist für ein Kind ist ja eine sichere Bindung, bei der es weiß, dass es bedingungslos geliebt wird und so auf es eingegangen wird, dass ihm an nichts fehlt. Diese Erfahrung machen die meisten Bordberliner nicht. Das ist das eine. Wissenschaftler gehen außerdem davon aus, dass es eine Art genetischer Prädisposition für Borderline gibt.
Bei Ihnen auch?
Ich habe bei der Erforschung meiner Familiengeschichte festgestellt, dass die Schwester und der Bruder meines Großvaters Borderlinezüge aufwiesen – auch wenn man das damals natürlich nicht so genannt hätte. Sie wuchsen wiederum während des Krieges auf und waren dadurch zahlreichen potenziell traumatischen Situationen ausgesetzt. Führt man sich nun die Erkenntnisse der Epigenentik vor Augen, der Vorstellung also, dass die Erfahrungen eines Menschen einen Einfluss auf die Gene der Nachkommen haben können, so finde ich ziemlich plausibel, dass Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden. Ich habe schon das Gefühl, dass es bei meiner Borderline-Erkrankung Teile gibt, die nicht zu mir gehören oder nicht von mir ausgehen.
Sie sind Mutter von zwei Kindern, 2 und 4 Jahre alt. Was können Sie bei Ihren Kindern besser machen als die Mutter Ihrer Kindheit?
Ich glaube, ich bin fröhlicher als meine Mutter damals. Außerdem bin ich im Gegensatz zu ihr nicht bei dem Mann geblieben, mit dem ich nicht glücklich war – obwohl man den Kindern die komplette Familie wünscht. Es hat mich sehr viel Kraft und Mut gekostet, mich zu trennen. Ich denke aber, dass es die richtige Entscheidung auch für meine Kinder war und ist. Ich bin dadurch eine zufriedene Mutter. Dann bin ich zwar sehr impulsiv und werde auch schnell laut. Aber ich bin echt. Authentisch. Ich halte das für sehr wichtig. Ich hoffe, dass ich meinen Kindern dadurch nicht die doppelten, paradoxen Botschaften mitgebe, mit denen ich aufgewachsen bin und die mich sehr verstört haben. Zum Beispiel, wenn man auf die Frage, wie es jemandem geht, mit leidendem Gesichtsausdruck und weinerlicher Stimme hört: „Mir geht es gut.“ Da weiß man dann nicht, wem man trauen soll: der eigenen Wahrnehmung oder dem Gesagten.
Sie beschreiben sich selbst als trockene Borderlinerin. Wie sorgen Sie dafür, dass Sie nicht rückfällig werden?
Wenn ich merke, dass ich in einer Situation bin, die mir nicht gut tut, versuche ich sie vor einer Eskalation zu verlassen. Dann treibe ich viel Sport. Ich gehe Schwimmen und Radfahren. Nach einer halben Stunde schwemmen die Glückshormone mein Gehirn und machen den Kopf frei. Wenn ich es mal ausfallen lassen muss, bin ich deutlich gereizter und anfälliger für Frust. Ich muss also wirklich immer achtsam mit mir sein. Manchmal strengt es mich an. Aber es ist mir lieber so, als wenn ich wie als Jugendliche verbrannte Erde hinterlasse. Außerdem schreibe ich meine Gefühle auf, das hilft mir (hier der Link zu Kathrin Zeddies neuem Buch „Mein langer Atem“). Und ich trinke keinen Alkohol mehr. Denn früher hab ich mich dann häufig so verhalten, dass ich anschließend ein schlechtes Gewissen hatte.
Zusammen mit Ihrer Mutter haben Sie in Berlin ein Beziehungstraining für Borderliner und deren Angehörige ins Leben gerufen. Außerdem eine Selbsthilfegruppe. Was raten Sie Angehörigen von Borderlinern?
Wichtig ist, dass auch die Angehörigen auf ihren Anteil gucken. Also auf ihre Kommunikation, die dazu beiträgt, dass es aus dem Ruder läuft. Denn an der Situation sind ja doch immer alle beteiligt. Meine Mutter hat eine Psychoanalyse gemacht, und das hat mir viel bedeutet. Dadurch können wir uns austauschen. Denn ich habe meinerseits ja auch Therapie gemacht – und wie soll man die neuen Muster anwenden, wenn die anderen sich nicht mitentwickeln? Es funktioniert nur, wenn die Angehörigen mitmachen.
Was raten Sie jemandem, der den Verdacht hat, selbst Borderliner zu sein?
Es gibt Menschen, die fühlen sich durch eine Diagnose pathologisiert. In diesem Fall könnte man alternativ gucken, wie man sich anders ausgleichen kann. Mit einem regelmäßigen Lebensrhythmus ist vielleicht viel gewonnen, mit genug Schlaf, regelmäßigen Mahlzeiten, und so wenig Triggerfaktoren im persönlichen Umfeld wie möglich. Einige Langzeitstudien besagen, dass für manche Menschen ab 40 die Erkrankung angenehmer verläuft, selbst dann, wenn sie nicht in Therapie sind. Vielleicht, weil dann das Alter positiv zum Tragen kommt. Denjenigen, die sich Klarheit wünsche, empfehle ich aber eine frühe Diagnostik. Denn es gibt sehr hilfreiche Therapie – und die kann man ja nur in Anspruch nehmen, wenn man weiß, was man hat.
Was können Gesunde von Borderlinern lernen?
Schöne Frage, aber auch schwer zu beantworten! Ich würde es so sagen: Borderline hat mir Leidensdruck verursacht, und durch diesen Leidensdruck habe ich mich auf den Weg gemacht und Möglichkeiten auskundschaftet, für mich und andere aushaltbar zu sein. Sich auf die Suche nach eigenen Schattenseiten zu machen und etwas Neues über sich zu erfahren, hat mich echt bereichert. Diese Erfahrung wünsche ich eigentlich jedem.
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