Frau Dr. Preißmann, Sie sind Asperger-Autistin und leiten als Ärztin eine Autismussprechstunde in einer südhessischen Klinik. Wie geht es Ihnen zur Zeit mit der Corona-Krise?
Menschen mit Autismus tun sich ja generell sehr schwer mit Veränderungen. Entsprechend waren insbesondere die ersten Tage, in denen das volle Ausmaß der Pandemie deutlich wurde, brutal schwer für mich. Alle paar Stunden gab es neue Informationen. Das, was in einem Moment beschlossen wurde, war im nächsten Augenblick bereits wieder Vergangenheit. Da wurde mir eine Flexibilität abverlangt, über die ich in der Form als Autistin gar nicht verfüge. Und wie wohl allen Menschen macht mir die Situation natürlich auch Angst. Vielleicht als Ärztin sogar noch ein Stück weit mehr. Wir haben in unserer Klinik eine Station leer räumen müssen, um dort notfalls Corona-Patienten behandeln zu können. Und die Frage, ob ich irgendwann wie in Italien über das Schicksal von Menschen entscheiden muss, belastet mich.
Sind Sie auch besorgt um sich selbst?
Nein, um mich nicht. Aber im persönlichen Umfeld vor allem um meine Eltern.
Wie erleben Sie derzeit die Menschen, die Sie in Ihrer Autismus-Sprechstunde aufsuchen?
Wie es anderen autistischen Menschen geht, versuche ich aktuell mit Hilfe eines Fragebogens herauszufinden. Mich interessiert, welche Strategien die Menschen entwickeln, um mit der Situation zurecht zu kommen. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse. Grundsätzlich aber ist es für die meisten Betroffenen momentan schwer, dass Strukturen und dadurch Sicherheiten im Alltag wegbrechen. Viele sind auf Unterstützungsangebote in Form von Pflegediensten und betreutem Wohnen angewiesen, und diese Angebote werden, sofern sie medizinisch nicht zwingend erforderlich sind, ebenso wie spezifische therapeutische Maßnahmen abgesagt. Das ist eine große Herausforderung.
Was raten Sie?
Grundsätzlich rate ich, dem Alltag dennoch eine feste Struktur zu verleihen. Das heißt, zur gleichen Zeit aufstehen, zur gleichen Zeit Mittagessen und da, wo Termine entfallen, etwas anderes an die Stelle zu setzen. Zum Beispiel anstatt zur Physiotherapie zu gehen, einen Spaziergang zu machen. Feste Termine bieten Halt. Das ist im Moment wichtiger denn je. Ohne Struktur in den Tag hinein zu leben, artet nicht nur für autistisch veranlagte Menschen in Stress aus.
Wie erleben Sie die Forderung nach sozialer Distanz im öffentlichen Raum?
Mir fehlt es schon, mich in ein schönes Café setzen und dort einen Kaffee trinken zu können. Genauso werde ich eine geplante Reise nach Borneo absagen müssen, und all die schönen Vorträge und Seminare, die ich so gern mache, finden natürlich auch nicht statt. Aber interessanterweise beschreibt die soziale Distanz ganz grundsätzlich unsere alltägliche Realität. Denn viele Menschen im autistischen Spektrum, mich eingeschlossen, vermeiden enge körperliche Nähe und haben meist nur wenige soziale Kontakte, wenngleich sie sich das oft wünschen würden. Das, was man derzeit von allen Menschen abverlangt, ist also quasi unsere Lebensrealität. Wir müssen uns darauf also nicht mühsam einstellen. Aber ich bin erleichtert darüber, dass auch die meisten anderen Menschen, so mein Eindruck, die soziale Distanz einhalten, um die Verbreitung des Virus’ einzudämmen.
Wir danken Frau Dr. Preißmann herzlich für das Interview. Hier kommen Sie zum ersten Interview, das wir mit ihr geführt haben. Dort erzählt sie über ihr Leben als Autistin.
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