Frau Professor Sonia Lippke, im Moment müssen wir auf Abstand gehen – viele fühlen sich allein. Was ist der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit?
Das ist eine wichtige Frage, weil Alleinsein nichts Negatives ist. Alleinsein ist vielmehr ein Zustand, in dem man niemand anderen um sich herum hat. Man kann es aber so empfinden, dass man mit anderen Menschen verbunden ist, und das ist das Entscheidende. Bei Einsamkeit fühlt man sich selbst in einem Raum voller Menschen oder mit einem Gesprächspartner verlassen oder unverstanden. Etwas fehlt.
Lässt sich der Zustand der Einsamkeit aus eigener Kraft ändern?
Die meisten Menschen können das ganz gut, beispielsweise indem sie Freunde treffen. Wenn wir uns jetzt im Home Office einsam fühlen, dann müsste die Einsamkeit während einer Videokonferenz mit anderen nachlassen. Oder beim Sprechen mit einem Freund, einer Freundin am Telefon. Funktioniert das nicht, liegt es womöglich daran, dass sich die menschliche Nähe über die digitalen Medien nicht ausreichend vermittelt. Typisch ist aber auch, dass zwei Menschen in einer Partnerschaft sich nicht gleich verbunden und verstanden fühlen: Einer von beiden bezeichnet sich als einsam, der andere nicht. Und das, obwohl beide zusammen leben und den gleichen Austausch miteinander haben.
Woran liegt das?
Daran, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen und Erwartungshaltungen gibt. Typischerweise wünschen sich Frauen mehr Gespräche, vor allem über Gefühle, während viele Männer damit zufrieden sind, dass man zusammen etwas unternimmt. Auch in der aktuellen Situation sind diese voneinander abweichenden Erwartungen und Wahrnehmungen in der Beziehung für viele ein zentrales Thema. Zumal sich in der Krise zeigen kann, dass eine Beziehung vielleicht nicht mehr optimal ist – ein Phänomen übrigens, das wir auch aus Urlauben kennen, wo viele Scheidungen beschlossen werden. Aus einem Alltag voller Ablenkungen kommend, muss man sich vielleicht zunächst erst wieder aneinander gewöhnen. In einer Krisenphase wie jetzt ist es natürlich ganz wichtig, dass man zusammen hält und nicht wegen jeder Kleinigkeit an die Decke geht.
Sie raten zu Gelassenheit?
Ja. Alle sind gestresst und in einer Ausnahmesituation. Man sollte das Vertrauen haben, dass sich das Leben wieder normalisiert. Natürlich ist es immer gut, miteinander ins Gespräch zu kommen. Aber nicht verkrampft. Wenn man sich mit Vorwürfen hochschaukelt – der eine will reden, der andere sagt, wir reden doch ohnehin permanent – dann wird es womöglich immer schlimmer. Da ist es tatsächlich besser, alles etwas entspannter anzugehen.
Was gelingt das?
Gut ist es immer, wenn man etwas findet, über das man lachen kann. Also, nicht über jemanden in der Familie natürlich, sondern über etwas, bei dem man Humor teilt. Vielleicht macht man als Familie einen Witzewettbewerb. Das Lachen löst meist viele Verspannungen.
Was raten Sie Singles, die sich im Home Office einsam fühlen?
Es gibt momentan zwei typische Gruppen: die eine mit der Doppelbelastung durch Home-Office und Home-Schooling. Und die Gruppe der Singles, der Menschen, die sofern sie von zu Hause aus arbeiten, ihr gewohntes soziales Umfeld nicht mehr automatisch treffen. Bei denen entsteht möglicherweise ein Gefühl der Leere und der Langeweile. Hier ist wichtig zu sehen, dass Alleinsein auch Kreativität freisetzen kann. Im Moment vermitteln sich in den sozialen Medien zahlreiche neue Ideen und Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu bleiben oder zu kommen, obwohl man gar nicht an einem Tisch im Biergarten sitzt. Insofern würde ich hier dazu raten, alte Kontakte neu aufleben zu lassen, und Menschen, mit denen man sich sonst regelmäßig austauscht, jetzt auf anderem Wege wieder zu sehen – per WhatsApp, Skype oder Zoom. Vielleicht auch über ein Gespräch aus dem Fenster heraus, möglicherweise sogar mit den Nachbarn oder Unbekannten.
Viele Menschen sind insbesondere im Moment sehr freundlich.
Ja. Die meisten schauen zwar erst einmal weg, weil man sich gegenseitig verdächtigt, Überträger des Virus’ zu sein. Aber gleichzeitig erlebt man, derzeit viel Freundlichkeit, viel Solidarität, viel „Wir sitzen in einem Boot-Gefühl“ und Sorge umeinander.
Älteren Menschen dürfte es derzeit schwer fallen, sich selbst aus der Einsamkeit zu befreien. Macht Einsamkeit auf Dauer krank?
Jemand, der zum Arzt geht und sagt, er fühle sich einsam, wird nicht als krank bezeichnet, und er wird auch nicht krank geschrieben. Es gibt im medizinischen Bereich keinen Abrechnungsschlüssel für Einsamkeit. Aber wer die Einsamkeit nicht ernst nimmt und Abhilfe schafft, wird langfristig vielleicht krank, weil das Gefühl der Einsamkeit den Körper stresst und schwächt. Wer jetzt in Zeiten von Corona in einem Alten- oder Pflegeheim lebt und nur hin und wieder das Personal sieht, das durch die Hygienemaßnahmen und Zeitmangel außerdem auf Abstand geht, dem fehlt etwas ganz Entscheidendes.
Was befürchten Sie?
Ich verstehe sehr gut, dass man im Moment die Pflege- und Altenheime für Besuche geschlossen hat. Aber wenn man es noch länger aufrecht erhält, dann ist die Gefahr groß, dass einigen dort lebenden Menschen die Lebensqualität verloren geht – und vielleicht sogar der Lebenswille. Die Einsamkeit in Folge der sozialen Distanz würde die Menschen generell anfälliger für Erkrankungen machen, egal, ob es nun das Coronavirus ist, oder ob sich Vorerkrankungen verschlimmern. Wir wissen außerdem, dass schwer demente Personen sehr davon profitieren, wenn sie Besuch bekommen oder sie eine andere Form der Ansprache durch das Pflegepersonal haben. Dass das derzeit nicht möglich ist, macht mir sehr große Sorge.
Was kann man tun?
Ich sehe zwei Möglichkeiten: Menschen, die ihre Angehörige besuchen, müssen mit Schutzkleidung inklusive Mundschutz, Handschuhen und Instruktionen ausgestattet werden. Dann ist der Kontakt gewährleistet, und die Bewohner der jeweiligen Einrichtung sind trotzdem in Sicherheit. Die Schutzmaßnahmen müssen natürlich professionell sein. Da hilft keine selbstgenähte Mundschutzmaske. Und selbstverständlich dürfen nur Besucher herein reingelassen werden, die negativ auf Corona getestet wurden. Das andere ist, dass beim Pflegepersonal mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssten. So könnten sie den Älteren beim Telefonieren oder Skypen helfen, wenn da Schwierigkeiten vorhanden sind. Auch darüber ließe sich der Kontakt zu der jüngeren Generation sicher stellen und Einsamkeit vermeiden.
Danke an Prof. Sonia Lippke für das Gespräch.

Sonia Lippke lehrt und forscht seit 2011 als Professorin für Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin an der Jacobs University Bremen. Sie interessiert sich für Einsamkeit, Gesundheit und Wohlbefinden insbesondere in sozialen Netzwerken und in Zeiten der Digitalisierung. Derzeit führen sie und Kolleginnen eine Studie durch zum Thema „Kommunikation im Gesundheitswesen“. Mehr dazu in unserem nächsten Interview.
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