Herr Professor Biesalski, was ist eine Ernährungsbiografie?
Das ist unsere Biografie, die schon vor der Zeugung beginnt und die über die Ernährung der Mutter bis hin zu derjenigen der Großeltern zurückreicht. Die Biografie kann die Grundlagen für unsere spätere Gesundheit legen.
Das Kind im Bauch empfängt eine Art Wetterbericht von der Mutter, schreiben Sie.
Genau. Um das zu verstehen, muss man sich kurz die Epigenetik vergegenwärtigen. Bei der bekannten Genetik verändert sich das Erbgut der Menschen über viele Generationen hinweg. Bei der Epigenetik hingegen kommt es zu kurzfristigen Anpassungen an Umwelteinflüsse, ohne die der Mensch nicht überleben könnte. Der Einfluss der Eigenetik lässt sich am Beispiel von Müttern nachvollziehen, die während Extremsituationen wie dem Holländischen Hungerwinter 1944/45 oder der Belagerung von Leningrad schwanger waren. Über die Plazenta und mit Hilfe von Hormonen und Mikronährstoffen haben sie ihren Kindern die Information vermittelt, dass sie eine Welt des Mangels hineingeboren werden. Diese Kommunikation zwischen Mutter und Embryo bezeichne ich als Wetterbericht. Als Folge wurde der Stoffwechsel des Kindes so eingestellt, dass er um jeden Preis speichert. Diese durch die Ernährungs-Umwelt verursachte Stoffwechseleinstellung geschieht durch die Epigenetik.
Welche Auswirkungen hat eine solche Wettervorhersage?
Diese Kinder haben ein hohes Risiko für Übergewicht, aber auch für andere Erkrankungen, wie Bluthochdruck und Diabetes. Denn ihre Ernährungsbiografie folgt dem Muster: Essen. Speichern. Und ja nicht so viel bewegen.
Epigenentik:
Bei der Genetik verändert sich das Erbgut der Menschen über viele Generationen hinweg durch den Austausch von Bausteinen in der Erbsubstanz. Sind wichtige Gene durch solche Mutationen betroffen, kann dies zu Erbkrankheiten führen. Bei der Epigenetik hingegen bleiben alle Bausteine erhalten, lediglich die Lesbarkeit der Erbinformation kann gehemmt oder verstärkt werden. Dabei handelt es sich um eine kurzfristige Anpassung an Umwelteinflüsse.
Also ist man nicht selbst schuld am Übergewicht. Es sind die Gene – oder die Mütter.
Nein. Das so zu sehen, wäre der falsche Ansatz. Auch möchte ich auf keinen Fall, dass bei Schwangeren oder jungen Müttern das Gefühl entsteht, sie hätten etwas falsch gemacht. Aber wenn wir die Rolle der Epigenetik begreifen, dann können wir besser verstehen, warum in Ländern, in denen die Menschen unter Hunger leiden, gleichzeitig zunehmend ein Problem mit Übergewicht beobachtet wird – Afrika oder Mittelamerika sind bekannte Beispiele. Auch für Frauen, die sich vegan ernähren, ist dieser Gedanke interessant. Wird das Kind vor seiner Geburt vegan ernährt, erhält es so etwas wie eine Mangelbotschaft aus der Umwelt der Mutter. Aus meiner Sicht ist eine streng vegane Ernährung in der Schwangerschaft ein Schaden für das Kind. Es kann die physische und kognitive Entwicklung des Kindes nachhaltig beeinträchtigen.
Wie kann man seine eigene Ernährungsbiografie denn in Erfahrung bringen?
Zum einen muss man sich natürlich vergegenwärtigen, wann und wo man geboren wurde. Zum anderen kann man etwa den Zeitpunkt des Frühstücks variieren und gucken, wann man das nächste Mal Hunger bekommt. Denn dieser Zeitpunkt sagt etwas über meine Insulinempfindlichkeit aus – und damit über meine Ernährungsbiografie. Ein Organismus, der auf Speichern eingestellt ist, wird die Insulinempfindlichkeit hoch regulieren. Er will, dass die Glukose schnell in die Zellen gelangt, wo er sie einspeichern kann. In dem Moment, in dem die Glukose im Blut abgebaut wird, taucht der Hunger auf. Das Gehirn bestellt Nachschub, der dann wieder eingelagert werden soll.
Das klingt nach Gewichtsproblemen. Beruhigenderweise heißt eines Ihrer Kapitel:„Übergewicht – na und?“
Zunächst einmal muss man ganz streng zwischen einem übergewichtigen Menschen und einem adipösen Menschen unterscheiden. Jemand, der fettleibig ist, hat einen Body-Mass-Index von weit über 30, und das ist nicht gesund. Übergewicht muss aber nicht gesundheitsschädlich sein, ebenso wie auch Normalgewicht nicht immer gesund ist.
Aber wenn es einen immer wieder zur Torte oder zur Salami treibt, droht aus Übergewicht Fettleibigkeit zu werden. Kann man seine Ernährungsbiografie denn beeinflussen?
Ja, das geht. Am besten noch bevor der BMI über 30 klettert. Regelmäßige Bewegung hat einen positiven Einfluss auf den Blutzucker und damit auf die Speicherung und Verteilung von Energie im Körper. Außerdem kann man sich aktiv mit dem eigenen Belohnungssystem auseinandersetzen und es überlisten: Wenn man zum Beispiel bei Süßem nicht nein sagen kann, kann man versuchen, seine Wünsche ritualisiert zu befriedigen. Indem man Süßes gegen etwas anderes austauscht und Süßes zwar weiterhin isst, aber nur zu einer bestimmten Uhrzeit am Tag. Generell sollten wir uns nicht immer über unser Körpergewicht definieren, sondern über unseren Lebensstil, also gesunde Ernährung und regelmäßige Bewegung. Diese Faktoren entscheiden letztlich darüber, ob wir krank werden oder nicht.
Wie würden Sie Ihre eigene Ernährungsbiografie beschreiben?
Ich bin Jahrgang 1949, also typisch Nachkriegszeit. Mein BMI schwankt seit jeher zwischen 27 und 28. Und ich kenne sehr gut mein Belohnungssystem. Ich liebe Käse und – typisch für einen Rheinhessen – die Mainzer Fleischwurst. Da schneidet man sich gerne ein ganz kleines Stück ab. Und dann noch eins, und dann noch eins … irgendwann ist sie weg! Das ist gar nicht so leicht in den Griff zu bekommen. Aber ich bewege mich sehr viel. Seit 30 Jahren schwimme ich jeden Morgen 1000 Meter, auch heute Morgen war ich im Freibad, das war kalt, aber herrlich. Und ich lebe auf dem flachen Land, da laufe ich so oft es geht meine acht bis zehn Kilometer. Das führt nicht dazu, dass ich abnehme. Aber dazu, dass ich gute Blutwerte habe und relativ gesund bin.
Hans Konrad Biesalski
Hans Konrad Biesalski,1949 in Marburg geboren, studierte zunächst Physik und absolvierte anschließend sein Medizinstudium an den Universitäten Bonn und Mainz. Seit 1995 leitet er als Ernährungsmediziner das Institut für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft der Universität Hohenheim. Seit 2014 ist er Direktor des Food Security Center. Biesalski forscht seit 30 Jahren über die Bedeutung von Mikronährstoffen für die Gesundheit und hat zahlreiche Lehrbücher veröffentlicht, u.a. den „Taschenatlas Ernährung“. Im Knaus-Verlag erschien jetzt „Unsere Ernährungsbiografie“.
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