Vielen Dank an Frau Lindner für das Interview zum Thema Familienaufstellung.
Frau Lindner, woher stammt die Idee der Familienaufstellung?
Die US-amerikanische Psychotherapeutin Virginia Satir gilt als Mutter der Familientherapie und hat in den 1970er Jahren die sogenannte Familienskulptur als Technik der Familientherapie entwickelt. Mit ihr sollen Gefühle und Beziehungen der Beteiligten für die therapeutische Arbeit deutlich gemacht werden.
Wie läuft die Familienskulptur oder Familienaufstellung ab?
Eine Klientin hat vielleicht in ihrer Vergangenheit eine Situation erlebt, die ihr in der Gegenwart immer wieder Probleme bereitet, möglicherweise in Form von Ängsten. Bei der Familienskulptur ist sie dann dazu aufgefordert, aus der therapeutischen Gruppe Stellvertreter auszuwählen, die für Mitglieder aus ihrer Herkunftsfamilie stehen, für ihre Mutter, den Vater oder Geschwister. Die positioniert die Klientin dann so im Raum, dass Beziehungen untereinander deutlich werden. Anschließend beleuchtetet die Klientin, unterstützt von ihrer Therapeutin oder ihrem Coach, wie sie sich damals in der Situation gefühlt hat. Und sie versucht dem nachzuspüren, was heute für sie wichtig wäre.
Sind die Stellvertreter aktiv beteiligt?
Nachdem die Stellvertreter die Gelegenheit hatten, sich in ihre Rolle einzufühlen, werden sie gefragt, wie es ihnen in der jeweiligen Situation und Beziehung geht. Vielleicht sagt die stellvertretende Mutter, dass sie sich überfordert fühlt. Und dann schaut man wiederum, was diese Aussage bei der Klientin auslöst als dem kleinen Mädchen, das sie einmal war. Dadurch werden innerhalb des Beziehungsgeflechts verschiedene Perspektiven erlebbar.
Was verspricht man sich von dieser Art der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit?
Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass sich in der jeweiligen Situation keine „Wahrheit“ vermittelt. Die Situation ist eine Rekonstruktion, und diese Rekonstruktion nutzen wir im Sinne der Therapie. In der systemischen Therapie gehen wir ja davon aus, dass Schwierigkeiten in der Gegenwart teilweise daher rühren, dass wir frühere Ereignisse nicht gut verarbeiten konnten und dass es hilfreich sein kann, sie für eine Lösung ins Hier und Jetzt zu überführen. Die Familienskulptur oder Familienaufstellung bietet dem Klienten hier nun ganz korrekt die Möglichkeit, sich in eine Situation zurückzuversetzen und Gefühle auszusprechen, die er oder sie sich als Kind nicht getraut hat zu sagen – vielleicht aus Angst vor der Reaktion der Eltern oder aus der Sorge, sie damit zu belasten. Dann schaut der Therapeut oder die Therapeutin gemeinsam mit der Klientin, wie man auf Grundlage der neuen Erkenntnisse weitermachen könnte. Mitunter kann es gut sein, wenn das Kind symbolisch etwas zum Vater oder zur Mutter sagt. Etwa: „Ich hätte damals mehr Zuwendung oder Aufmerksamkeit gebraucht“. Ein solches Aussprechen ohne Schulgefühle erleben viele Klienten als befreiend.
Welche Rolle spielt das körperliche Erleben in der Familienaufstellung oder Familienskulptur?
Ich arbeite auch als Körpertherapeutin, und es ist schon spannend: Wenn ich Sie jetzt frage, wie es Ihnen auf einer Skala von eins bis zehn geht, werden Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas anderes antworten, je nachdem, ob sie nur darüber nachgedacht haben. Oder ob Sie auf einer physischen Skala auf dem Boden gelaufen sind und geguckt haben, an welcher Stelle Sie stehen. Denn in dieser zweiten Situation gibt es nicht nur einen intellektuellen Zugang, sondern auch einen körperlichen und emotionalen. Solche Zugänge eröffnet auch die Familienaufstellung oder Familienskulptur.
Wie viel Zeit nimmt eine Familienskulptur oder Familienaufstellung in Anspruch?
Das ist in aller Regel ein Prozess, der sich über mehrere Stunden erstreckt. Da gibt es ein Vorgespräch, in dem das Ziel der Klientin oder des Klienten besprochen wird. Und in der Nachbereitung wird die erlebte Situation reflektiert.
Man hört auch von Familienaufstellungen, die während einer einzigen Sitzung und damit im Schnellverfahren stattfinden.
Hier wird meistens die Familientherapie nach Bert Hellinger praktiziert, einem Psychoanalytiker und Familientherapeuten. Er hat sehr viel aus der systemischen Therapie und der Idee der Familienskulptur übernommen und darauf aufbauend sein eigenes Konzept der Familienaufstellung entwickelt. Der große Unterschied zur Familienskulptur nach Virginia Satir ist, dass die Familienaufstellung nach Hellinger mitunter sehr verkürzt ist. Und dass in Hellingers Ansatz der Therapeut über eine gewisse Deutungshohlheit verfügt. Er „weiß“, was der jeweilige Klient braucht und gibt ihm oder ihr bestimmte Sätze vor, die die Klienten zu den Stellvertretern sagen sollen. Der Ansatz ist dadurch sehr normativ. Er birgt die Gefahr, dass der Klient in eine innere Zwickmühle gerät. Nämlich dann, wenn er oder sie der Deutungshoheit des Fachmenschen nicht zustimmt. Sich gegen diese Deutungshoheit zu stellen, kostet Kraft und Mut. Und es kann sehr verunsichernd sein, wenn man der Autorität entgegen dem eigenen Willen folgt. Wegen dieser Deutungshoheit des Therapeuten wird der Ansatz nach Hellinger immer wieder kritisiert.
Worauf sollte ich achten, wenn ich an einer fundierten Familienaufstellung teilnehmen möchte?
Da ist es sicherlich sinnvoll auf die Ausbildung der Aufstellerin oder des Aufstellers zu achten. Es gibt die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und die Systemische Gesellschaft, beide stehen für Qualitätssicherung in der Ausbildung. Wenn ich also eine Familienaufstellung machen möchte, sollte ich mich an jemanden wenden, der sich bei diesen Dachgesellschaften weitergebildet hat.
Für wen eignet sich die Familienaufstellung?
Wenn man neugierig und psychisch stabil ist, kann man sicher einmal eine Familienaufstellung ausprobieren – in einer akuten Krise ist sie aber nicht das Mittel der Wahl. Hier würde ich immer dazu raten, einen Therapeuten zunächst in Einzelsitzungen aufzusuchen.
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