Perfektionismus: Mehr als die Summe meiner Fehler

Perfektionismus gilt als übertriebenes Streben nach Fehlervermeidung. Warum er auch krank machen kann, erklärt die Psychologin Dr. Christine Altstötter-Gleich

Perfektionismus: Mehr als die Summe meiner Fehler

© iStock/jaroszpilewski

Frau Dr. Altstötter-Gleich, Sie unterscheiden zwischen gesunden und ungesundem Perfektionismus. Wann ist Perfektionismus gesund?

Ein Perfektionist stellt hohe Ansprüche an das, was er tut. Er möchte so gut wie möglich sein. Gesunde Perfektionisten freuen sich über ihre Erfolge, und wenn einmal etwas nicht klappt, verzweifeln sie nicht, sondern akzeptieren das.

Und was macht der ungesunde Perfektionist?

Der ungesunde Perfektionist hat ebenfalls einen hohen Anspruch. Seine perfektionistischen Bedenken drehen sich aber beständig darum, was alles geschehen könnte, wenn er seine ambitionierten Ziele nicht erreicht. Im Scheitern stellt er seine gesamte Person infrage und reagiert mit Selbstvorwürfen. Aus Angst davor, Fehler zu machen, nimmt er bestimmte Aufgaben möglicherweise gar nicht erst an.

Wie wirkt sich ein solcher Perfektionismus auf die Gesundheit aus?

Hier stehen stressbedingte Erkrankungen im Vordergrund: Bluthochdruck, Verspannungen, Depressionen, Burnout sowie Essstörungen und allgemein Schwäche- und Erschöpfungszustände. Vor diesen möglichen Auswirkungen sind übrigens auch gesunde Perfektionisten nicht gefeit. Denn unter großer Anstrengung anspruchsvolle Ziele zu verfolgen, kostet Kraft – und Kraft ist eine endliche Ressource.
Ungesunde Perfektionisten neigen außerdem dazu, sich sozial zurückzuziehen. Diese selbstgewählte Isolation kann ebenfalls zu einem gesundheitlichen Problem werden, denn das soziale Umfeld stellt nicht zuletzt eine wichtige Ressource der Regeneration dar.

Wie entsteht ungesunder Perfektionismus?

Zum einen gibt es eine moderate Erblichkeit. Die dürfte aber eher darauf zurückzuführen sein, dass die Tendenz, ängstlich zu sein, mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen korreliert, die als moderat erblich gelten. Vor allem aber spielt das Elternhaus eine Rolle.

Inwiefern?

Wir unterscheiden zwei Elternhäuser: In dem einen sind die Eltern ebenfalls Perfektionisten. Sie leben ihre Ansprüche als Modell vor und transportieren sie über Lob und Tadel an ihre Kinder. Wenn Lob und Tadel mit Unterstützung und emotionaler Wärme verbunden sind, entwickeln die Kinder hohe Standards, kommen mit ihnen später als gesunde Perfektionisten aber gut zurecht. Perfektionistische Elternhäuser, in denen ein Klima der emotionalen Kälte herrscht, setzen ihre Kinder hingegen einem Mangel an Wertschätzung aus. Damit verfestigt sich in den Kindern das Gefühl von unverzeihlichen Fehlern, und diese Überzeugung bleibt bis ins Erwachsenenalter erhalten. In dem anderen Elternhaus, das ebenfalls ungesunde Perfektionisten hervorbringt, steht möglicherweise Missbrauch auf der Tagesordnung. Dort entwickeln Kinder hohe Ansprüche, weil sie vielleicht versuchen, Strafen durch angepasstes Verhalten zu entgehen. Oder sie möchten durch ihren eigenen Perfektionismus Struktur in das sie umgebene Chaos bringen.

Was können Eltern tun, um ihren Kindern ungesunden Perfektionismus zu ersparen?

Ich würde den Eltern raten, den Kindern einen positiven Umgang mit Versagen und Versagensängsten beizubringen. Das bedeutet nicht, dass man dem Kind rückmeldet, dass es egal ist, welche Leistungen es beispielsweise in der Schule erbringt. Denn das verunsichert. Kinder erleben schließlich, dass Noten wichtig sind. Sie wünschen sich als soziale Wesen außerdem Anerkennung. Aber wenn ein Kind das Gefühl hat zu versagen, kann man seine Sorgen zunächst ernst nehmen – und das Kind anschließend trösten und ihm Mut zusprechen. Dadurch wird der Umgang mit Fehlern systematisch geübt, und ungesunder Perfektionismus findet keinen Nährboden.

Wie kann man als Erwachsener seinen ungesunden Perfektionismus in einen gesunden verwandeln?

Das erste Schritt ist sicherlich erst einmal wertzuschätzen, dass man anspruchsvoll ist. Denn Menschen, die etwas richtig machen wollen, sind wichtig für die Gesellschaft. Klar: Wenn wir zum Zahnarzt gehen, wünschen wir uns alle einen Perfektionisten, also jemanden, der möglichst keine Fehler macht. Der nächste Schritt besteht darin, sich bewusst damit auseinander zu setzen, was tatsächlich passiert, wenn wir einmal scheitern.

Die meisten Alltagsfehler sind vermutlich halb so schlimm.

Genau. Ich bin vor einiger Zeit über einen Leserbrief von einem Maschinenbauer gestolpert, der sich zu einem Artikel über Perfektionismus geäußert hat. Er schrieb, für Ingenieure bedeutete Perfektion Fehlertoleranz. Ein Produkt sei dann perfekt, wenn es gut mit Fehlern umgehen kann – und nicht, wenn es keine Fehler macht. Ich finde, das ist ein wunderbares Bild, um sich klar zu machen, dass Fehler zum Leben dazu gehören. Ich kann versuchen, mit Fehlern zu leben, mich unabhängig von ihnen zu akzeptieren und es beim nächsten Mal möglicherweise besser zu machen. Leider neigen gerade Perfektionisten dazu, sich viel zu spät Hilfe zu suchen. Denn natürlich besteht auch im Hinblick auf die eigene Funktionstüchtigkeit der Anspruch, alles alleine und ohne Hilfe hinzukriegen.

Aber eine Therapeutin oder ein Therapeut wäre der richtige Ansprechpartner, wenn jemand unter seinem ungesunden Perfektionismus leidet?

Ja. Als besonders geeignet hat sich die kognitive Verhaltenstherapie erwiesen. Über die Bundestherapeutenkammer kann man sich über in der Region tätige Therapeutinnen und Therapeuten informieren.

Dr. Christine Altstötter-Gleich

Dr. Christine Altstötter-Gleich

Dr. Christine Altstötter-Gleich

Dr. Christine Altstötter-Gleich ist Dozentin an der Universität Koblenz-Landau und Perfektionismus-Expertin. Am 20. Oktober 2017 erscheint ihr Ratgeber: „Perfektionismus: Mit hohen Ansprüchen selbstbestimmt leben“, BALANCE Buch + Medien Verlag.
 
 
 
 
 

 

KOMMENTARE

WORDPRESS: 0
DISQUS: 0