Jerusalem-Syndrom: Religiöser Wahn in Israel

Vor allem zur Osterzeit gibt es in Jerusalem immer wieder Touristen, die sich für den Propheten halten. Was steckt hinter dem Jerusalem-Syndrom?

Jerusalem-Syndrom: Religiöser Wahn in Israel

Was ist das Jerusalem-Syndrom und wie lässt es sich behandeln? / Bild ©iStock/kirill4mula

Jerusalem, die Klagemauer: In religiöser Andacht wippen schwarz gekleidete Männer mit breitkrempigen Hüten und langen Schläfenlocken vor den heiligen Steinen. Die Sonne brennt. Plötzlich reckt ein Betender die Hände zum Himmel. „Mein Name ist Chaim. Ich sage der ganzen Welt: Der Messias ist nahe! Es ist eine Prophezeiung!“ Mögliche Diagnose: Jerusalem-Syndrom – das sagt Psychiater Pesach Lichtenberg vom Herzog Hospital in Jerusalem. Der Psychiater hat schon einige Patienten wie Chaim getroffen, die sich ihm als Prophet oder Jungfrau Maria vorgestellt haben.

Was ist das Jerusalem-Syndrom?

Ärzte beschreiben das Jerusalem-Syndrom seit dem 19. Jahrhundert. Wer an ihm erkrankt, wähnt sich als biblische Figur – als Jesus, Messias, König David, Johannes der Täufer oder Jungfrau Maria. Oftmals kleiden sich die Betroffenen in weite Gewänder und halten öffentliche Predigten, in denen sie beispielsweise das Ende der Welt verkünden. Aber wie kommt es zu diesem religiösen Wahn?
Lichtenbergs Erklärung des Jerusalem-Syndroms klingt einfach: „Da ist irgendwas in der Atmosphäre in der Stadt, das zu dieser Verwandlung führt. Jerusalem ist nicht nur eine Sehenswürdigkeit, es ist ein Ort der Pilger.“

Überdosis Religion in der Heiligen Stadt

Mit Grabeskirche, Tempelberg und Garten Gethsemane verfügt Jerusalem über die weltweit wohl höchste Dichte an heiligen Ort. Eine Überdosis Religion, auf die so mancher Christ, Jude oder Muslim mit Wahnvorstellungen reagiert. Besonders anfällig seien laut Lichtenberg Protestanten, weil sie kein geistiges Oberhaupt wie den Papst kennen. Aber auch den Durchschnittstouristen trifft das Jerusalem-Syndrom mitunter wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und so stapeln sich in den Archiven des Herzog Hospitals Akten mit Geschichten über das Jerusalem-Syndrom. Da war der Tourist, der in seinem Hotel für Aufruhr sorgte, weil er dem Küchenpersonal Anweisung zur Vorbereitung des Letzten Abendmahls gab. Oder die Frau, die in einer Notaufnahme unbedingt ein Jesus-Kind gebären wollte. Und das, obwohl die Ärzte ihr immer wieder versicherten, sie sei gar nicht schwanger. Ein kanadischer Bodybuilder hielt sich hingegen für den biblischen Kraftprotz Samson und riss eine Wand ein. Er flüchtete zur nächsten Bushaltestelle und ließ sich nur deshalb von einer Krankenschwester zur Rückkehr in die Klinik bewegen, weil sie ihm versicherte, es sei Gottes ausdrücklicher Wunsch.

Wie lässt sich das Jerusalem-Syndrom behandeln?

Der religiöse Eifer ist, außer für den Betroffenen selbst, meist harmlos. Es gibt aber auch Erleuchtete, die komplett durchdrehen. Vor mehr als einhundert Jahren sprang ein Pilger von einem Kirchturm, nachdem ihm Prophet Hesekiel versichert hatte, er werde zum Himmel aufsteigen. 1969 steckte ein Australier mit Jerusalem-Syndrom die al-Aqsa-Moschee in Brand, und 1982 schoss sich ein bewaffneter Mann den Weg in den Felsendom frei. Er glaubte, der König der Juden zu sein. Eine Pille gegen das Jerusalem-Syndrom existiert nicht. Wer dem Jerusalem-Syndrom entfliehen möchte, muss einfach die Stadt verlassen, sagt Pesach Lichtenberg. „Einmal kam ein Mann in die Stadt und nachdem er ins Hotel eingecheckt hatte, begann er sich plötzlich merkwürdig zu fühlen. Ängstlich. Er nahm ein Bettlaken aus dem Schrank, band es sich um wie eine Toga und verkündete den Passanten auf der Straße, dass der Messias nahe sei. Als er zu uns gebracht wurde, beruhigte er sich und brach anschließend nach Ägypten auf – so als wäre nichts gewesen. Mit Jerusalem verschwand auch das Jerusalem-Syndrom.“

Männerschreie hallen über die weißen Klinikflure im Herzog Hospital i. Wieder ein Jesus? „Nein“, sagt Pesach Lichtenberg und lacht. „Kein Jesus. Aber einige Messias‘ laufen hier herum. Manche von ihnen sind sehr charismatisch. Ich bin immer sehr vorsichtig, wenn jemand sagt, er sei der Messias. Ein oder zweimal hatte ich wirklich Hoffnung! Wenn der Messias wirklich eines Tages kommt, stehen meine Chancen ganz gut, dass ich ihn kennenlerne. Und ich möchte ihn auf keinen Fall verpassen….“

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