Nein, lebensbedrohlich ist das Reizdarmsyndrom nicht, aber mit einem hohen Leidensdruck geht die Krankheit trotzdem einher. Studien belegen eine sehr niedrige Lebensqualität bei Reizdarm, ähnlich der nach einem Schlaganfall. Und im Vergleich zu anderen, objektiv schwereren Darmleiden wie den chronischen Darmentzündungen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, ist das Wohlbefinden von Reizdarmbetroffenen sogar besonders gering.
Frustrierte Patienten
Vermutlich liegt dies auch daran, dass den Patienten mit Reizdarm im medizinischen Sinne erst einmal anscheinend gar nichts fehlt; die Ergebnisse der üblichen Routineuntersuchungen zumindest sind unauffällig. Die Diagnose Reizdarm ist nichts, was sich an ein paar Laborwerten, einem Ultraschallbild oder anhand einer Darmspiegelung unmittelbar ablesen lässt – sondern das, was übrig bleibt, wenn man keine anderen Ursachen (wie etwa Unverträglichkeiten, Tumore oder Entzündungskrankheiten) für die anhaltenden Beschwerden finden kann. Eine sogenannte Ausschlussdiagnose.
„Viele Patienten sind frustriert und haben das Gefühl, dass sie keiner versteht“, sagt Professor Thomas Frieling, Gastroenterologe am Helios Klinikum Krefeld. Tatsächlich galten funktionale Verdauungsbeschwerden, das heißt solche, für die sich keine organische Ursache feststellen lässt, lange als psychosomatisch, also als körperliches Leiden mit psychischem Ursprung. Dass etwa jeder zweite Reizdarmpatient gleichzeitig ein psychisches Problem mit sich herumträgt – besonders oft sind es Depressionen oder Angststörungen –, schien diese Sichtweise nur zu bestätigen.
Dichtes Nervennetz
„Das Wichtigste ist, die Betroffenen ernst zu nehmen“, so Experte Frieling. „Denn inzwischen wissen wir, dass die Beschwerden keineswegs eingebildet sind, sondern eindeutig organische Ursachen haben. Sich Zeit zu nehmen und darüber aufzuklären ist bereits Teil der Therapie.“ Was genau beim Reizdarmsyndrom schiefläuft, lässt sich meist nur mit feineren Analysemethoden und eben nicht in der durchschnittlichen Arztpraxis feststellen.
So reagiert der Darm der Betroffenen auf die Aufnahme von Nahrung oft mit stärkeren Muskelkontraktionen als bei Gesunden. Das sorgt für Unruhe. Außerdem werden Reize, mechanische wie chemische, aus dem Verdauungstrakt viel eher als schmerzhaft wahrgenommen. Das Nervennetz, das den Darm umgibt, ist bei Reizdarmpatienten nämlich um die Hälfte dichter, und auch die Reizverarbeitung im Gehirn kann verändert sein, sodass die Schmerzempfindlichkeit steigt. Angst oder Stress können diese Effekte – sowohl was die Anspannung der Muskulatur als auch die sensiblere Schmerzwahrnehmung angeht – weiter verstärken. Alles, was Belastungen und negative Gefühle reduziert, etwa Entspannungsverfahren wie autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, wirkt dagegen lindernd. Und auch bestimmte Antidepressiva setzen die Reizschwelle wieder herauf, kommen also ganz unabhängig von einer möglichen begleitenden Depression zum Einsatz.
Oft kann zudem ein Verzicht auf die sogenannten FODMAPs Besserung bringen, wie man seit einiger Zeit weiß. FODMAP ist die Abkürzung der englischen Übersetzung von „fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Polyole“ – gemeint sind von Darmbakterien vergärbare Zucker wie Laktose oder Fruktose und Zuckeralkohole wie der Süßstoff Sorbitol. „Diese Nahrungsbestandteile fördern die Gasbildung im und den Wassereinstrom in den Darm, was die Betroffenen wegen ihrer niedrigen Empfindlichkeitsschwelle eher als unangenehm wahrnehmen“, so Frieling. „FODMAPs zu reduzieren hilft in etwa 70 Prozent der Fälle. Allerdings ist diese Diät sehr rigide.“ Denn nicht nur Süßigkeiten sind problematisch, auch viele Obst- und Gemüsesorten (Äpfel, Birnen, Zwiebeln, Kürbis, Pilze und viele mehr), Getreide (Weizen, Roggen, Gerste), Hülsenfrüchte (Kichererbsen, Kidneybohnen) und Milchprodukte aus Kuh-, Schafs- und Ziegenmilch haben einen hohen FODMAP-Gehalt. Man muss schon sehr leiden, um auf Dauer auf so viel zu verzichten und sich so intensiv mit der Ernährung zu beschäftigen. Und man braucht fachkundige Unterstützung, etwa vom Arzt oder der Ernährungsberaterin.
Fehler im Immunsystem
Als weitere Ursache des Reizdarmsyndroms wurden Mikroentzündungen der Darmschleimhaut ausgemacht. „Feingeweblich findet man vermehrt bestimmte Abwehrzellen wie Mastzellen und Lymphozyten“, so Frieling. So lässt sich auch erklären, warum sich bei etwa zehn Prozent der Betroffenen die Erkrankung nach einem schweren Magen-Darm-Infekt entwickelt, zum Beispiel durch Salmonellen, Campylobacter- oder EHEC-Bakterien, die im Sommer vor fünf Jahren in Deutschland grassierten. Offensichtlich fährt das Immunsystem seine Abwehrreaktion danach nicht „ordnungsgemäß“ wieder zurück – der Faktor Stress erhöht das Risiko für solch ungebremste Aktivität noch. Laut einer Studie der Universität Bologna regt diese die Fasern des Darm- Nervensystems zum Aussprießen an, sodass die Schmerzempfindlichkeit steigt.
Möglicherweise entsteht das Reizdarmsyndrom aber auch, weil sich durch den Infekt oder Medikamente, mit denen er behandelt wird, die Darmflora verändert. Zumindest ist bewiesen, dass im Darm von Reizdarmpatienten andere Mikroorganismen zu Hause sind als in dem von Gesunden. Unter anderem finden sich bei den Betroffenen vermehrt Bakterien, die beim Abbau der Nahrung Säuren produzieren, auf die wiederum das überempfindliche Nervensystem anspringt.
Dass die Einnahme von Probiotika, also lebenden Mikroorganismen, Beschwerden verringert, ist inzwischen eindeutig belegt – auch wenn sich nicht immer vorhersehen lässt, welche Bakterienpräparate individuell am besten nutzen.
Gefordert: Geduld
Für die Behandlung des Reizdarmsyndroms gilt dies ganz generell: Aus den zahlreichen Therapieoptionen die richtige zu finden gelingt manchmal, indem man herausfindet, welche der vielen Ursachen im Einzelfall eine Rolle spielt, oft aber auch nur durch geduldiges Ausprobieren. „Viele Patienten kommen mit der Erwartungshaltung, es gäbe die eine Wunderpille, und alles wird gut“, so Gastroenterologe Frieling. Aber die gibt es nicht. „Auch darüber muss man aufklären. Denn das Therapieziel ist nicht Beschwerdefreiheit, sondern die Krankheit zu akzeptieren und zu lernen, damit umzugehen. Und das gelingt nur über individuelle Empfehlungen und die Bereitschaft, an zwei oder mehreren Faktoren anzusetzen. Reizdarm ist eben nicht gleich Reizdarm.“ Und so kommen die Experten paradoxerweise inzwischen sogar zu der Vermutung zurück, dass es die Krankheit eigentlich gar nicht gibt. Nicht weil die Beschwerden eingebildet sind – diese Sichtweise ist zum Glück Vergangenheit –, sondern weil sich dahinter eigentlich ganz unterschiedliche Störungen verbergen, die man nur noch nicht genau voneinander abgrenzen kann.
Der lange Weg zur Diagnose
Hab ich nun ein Reizdarmsyndrom oder nicht? Viele Menschen schlagen sich mit wiederkehrendem Bauchgrummeln und Verdauungsproblemen herum, doch bevor das Kind einen Namen erhält, ist es ein langer Weg. Der richtige Ansprechpartner ist der Hausarzt bzw. der Gastroenterologe. Jeder Reizdarmdiagnose gehen aufwendige (Atem) Tests voran. Denn auch das Unvermögen, Laktose (Milchzucker) oder Fruktose (Fruchtzucker) zu verdauen, weil die dafür nötigen Enyzme fehlen, kann Dauerbeschwerden hervorrufen – um nur einige mögliche Gründe zu nennen. Wahrscheinlich werden auch Magen- und Darmspiegelung nötig, um auszuschließen, dass die Beschwerden beispielsweise durch eine entzündliche Darmerkrankung oder eine Glutenunverträglichkeit (Zöliakie) verursacht werden.
Wichtig: Diese Tests sind lästig und teilweise unangenehm, aber ohne wird es womöglich nur noch komplizierter. Denn auf Verdacht etwa von einer Laktoseintoleranz auszugehen und dann in Eigenregie monatelang auf Milch zu verzichten, kann dazu führen, dass sogar ein an sich gesunder Körper die Produktion des Laktose abbauenden Enzyms herunterfährt und man irgendwann wirklich keine Milch mehr verträgt – zusätzlich zur davor bestehenden Problematik.
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