Erkrankungen der Psyche gehören für jeden dritten Deutschen einmal zum Leben. Noch immer trauen sich leider viele Betroffene nicht, darüber offen zu reden. Wir sprachen mit Psychotherapeutin Lena Kuhlmann über das Thema.
Sie stellen Ihrem Buch „Psyche? Hat doch jeder“ ein Zitat aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ voraus. Es besagt, dass wir alle ein bisschen verrückt sind.
Ja, für mich ist das ein schöner Einstieg, weil es mir mit dem Buch darum geht, etwas der Stigmatisierung entgegenzusetzen, mit der psychische Erkrankungen immer noch behaftet sind. Ich möchte damit zeigen, dass alle Menschen im Laufe ihres Lebens in ein psychisches Ungleichgewicht kommen können – Psychotherapeuten eingeschlossen.
Psychische Erkrankungen sind der zweithäufigste Grund für Krankschreibungen im Job – nach Muskel-Skelett-Erkrankungen. Und trotzdem scheuen viele Menschen den Gang Psychotherapeuten?
Die Leute, die zu uns in die Praxis kommen, sind oft überfordert und wissen nicht, wie eine Psychotherapie funktioniert und was ein Therapeut genau macht. In ihrem persönlichen Umfeld sind sie häufig mit Stigmatisierungen konfrontiert. Ein gängiges Vorurteil lautet, dass eine psychische Erkrankung wie eine Depression mit einer Charakterschwäche gleichzusetzen sei. Man müsse sich nur zusammenreißen, dann gehe es auch schon wieder, heißt es. Wenn wir über Menschen sprechen, die seelisch erkrankt sind, gehen die Beschreibungen sogar in Richtung Beleidigung. Man sagt, jemand habe nicht mehr alle Tassen im Schrank, sei ballaballa oder nicht mehr ganz knusper. Und Behandler werden als Psychoonkel oder Seelenklempner bezeichnet.
Bei körperlichen Erkrankungen gibt es eine solche Abwertung nicht.
Genau. Da sorgt man sich eher und gibt Tipps – zum Beispiel ein bestimmter Tee bei einer Magenverstimmung. Die Psyche löst bei vielen Menschen Ängste aus, vielleicht auch, weil man sie, anders als einen Beinbruch, nicht sehen kann. Nicht wenige gehen dann auf Abstand und meiden den Kontakt.
Die Stigmatisierungen, die mit einer Psychotherapie einhergehen, äußern sich mitunter ganz konkret. Wenn ich zum Beispiel Polizistin werden möchte, führt eine laufende Psychotherapie unter Umständen zum Ausschluss meiner Bewerbung. Genauso kann ich Mühe haben, eine Lebensversicherung abzuschließen. Ist das aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
Das Problem ist, dass psychische Erkrankungen im Gegensatz zu körperlichen alle in einen Topf geworfen werden. Es wird wenig differenziert, dabei bestehen himmelweite Unterschiede. Es gibt psychische Erkrankungen, die nur temporär sind, wie eine Anpassungsstörung nach einer Lebenskrise, verursacht beispielsweise durch den Verlust einer nahestehenden Person. Und dann existieren schwere Erkrankungen, wie die Schizophrenie, die langfristige Folgen haben können und das Leben sehr einschränken.
Grundsätzlich führen Verallgemeinerungen und Stigmatisierung dazu, dass viele Menschen erst sehr spät psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Die Patienten warten und leiden unnötig lange. Und wenn der Leidensdruck so hoch ist, dass sie in die Therapie gehen, ist die Erkrankung vielleicht schon stärker vorangeschritten und die Behandlung aufwändiger.
In Bayern leistet der Entwurf eines neuen Psychiatriegesetzes weiteren Stigmatisierungen Vorschub. Denn es sieht vor, dass psychisch kranke Menschen, beispielsweise Depressive, in Krankenhäusern festgesetzt und ihre Daten an die Polizei weitergegeben werden. Dort sollen sie für fünf Jahre gespeichert werden.
Ein solches Vorgehen würde Stigmatisierung vorantreiben, das stimmt. Und es kriminalisiert die Menschen. In dem Moment, in dem die Polizei ins Spiel kommt, sehen sich die Betroffenen mit der Frage konfrontiert, ob sie etwas falsch gemacht haben. Da geht es dann plötzlich um Schuld. Die Folge wird sein, dass noch mehr Menschen Skepsis an der Psychiatrie entwickeln. Aus meiner Sicht ist das bayerische Psychiatriegesetz ein großer Rückschritt und für die Betroffenen außerdem eine massive Kränkung.
Was sagen Sie einem wegen der Stigmatisierung verunsicherten Patienten?
Ich kläre auf, indem ich beschreibe, wie die jeweilige Störung entsteht, was sie ausmacht und was man dagegen tun kann. Psychoedukation nennt sich diese Aufklärungsarbeit. Am besten wäre, man fängt schon früher an und unterrichtet in Schulen oder durch Pressearbeit in der Öffentlichkeit. Dadurch wüssten mehr Menschen, wie beispielsweise eine Depression entsteht, wie Therapeuten vorgehen oder wie Angehörige helfen können – und wie nicht.
Bei welchen Anzeichen sollte man einen Psychotherapeuten aufsuchen?
Mir gefällt das Beispiel des Hausarztes, an den man sich bei wendet, wenn man körperliche Auffälligkeiten an sich bemerkt und unsicher ist. Das lässt sich sehr gut auf psychisches Leiden übertragen. Denn inzwischen hat die kassenärztliche Vereinigung die psychotherapeutische Sprechstunde eingeführt. Diese besagt, dass alle Patienten in Deutschland einen Anspruch haben, innerhalb von vier Wochen nach Anruf ein Erstgespräch mit einem Therapeuten führen zu können. Nach diesem Gespräch kann der Psychotherapeut genau wie der Hausarzt entweder Entwarnung geben. Oder zu einer ambulanten, teil- oder vollstationären Therapie raten.
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