Frau Dr. Heimes, Sie sind Ärztin und haben ein Institut für kreatives und therapeutisches Schreiben gegründet. Inwiefern kann Schreiben eine Therapie sein?
Im Schreiben nehmen die Menschen wahr, dass sie selbst in der Lage sind, sich zu helfen. Das stärkt das Selbstbewusstsein enorm und macht unabhängig von Therapeuten und Medikamenten.
Es geht beim Schreiben also um die Macht der Psyche?
Hierzu ein Beispiel: In einem Experiment der Ohio Universität baten Forscher Testpersonen, sich täglich 15 Minuten lang vorzustellen, wie sie ihre Muskeln anspannen und dadurch trainieren. Allein die Vorstellung reichte, um die für diese Muskeln zuständigen Gehirnregionen so anzuregen, dass die Muskeln nach zwölf Wochen an Kraft zugenommen hatten. Dabei hatten die Versuchspersonen sie gar nicht tatsächlich bewegt. Daran angelehnt schlage ich in meinem Buch „Ich schreibe mich gesund“ vor, sich jeden Tag 15 Minuten Zeit zu nehmen und zu schreiben. Studien haben gezeigt, dass sich nur 15 Minuten Schreiben am Tag positiv auf Körper und Geist auswirken: Der Blutdruck sinkt, die Zahl der Helferzellen im Körper nimmt zu, Schmerzen lassen nach, Magen und Darm beruhigen sich.
Muss ich denn erst krank sein, um mit dem Schreiben anzufangen, oder ist Schreiben Prävention?
Schreiben schützt vor Krankheiten. Wenn wir die Warnung körperlicher Beschwerden überhören, kann das auf lange Sicht zu dauerhaften Schäden und chronischen Krankheiten führen. Ärgern wir uns zum Beispiel oft so sehr, dass unser Magen mehr Säure produziert als zur Verdauung notwendig ist, können eine Magenschleimhautentzündung und später ein Magengeschwür die Folge sein. Stehen wir ständig so unter Druck, dass unser Körper dauerhaft mehr Adrenalin und Cortisol produziert, haben wir wahrscheinlich bald Bluthochdruck und erleiden Schäden an den Gefäßwänden. Wenn wir hingegen frühzeitig erkennen, was uns stresst, und wenn wir es schaffen, uns Belastendes von der Seele zu schreiben – dann können wir körperliche Beschwerden tatsächlich verhindern oder zumindest reduzieren.
Was empfehlen Sie für den Einstieg?
Viele Menschen tragen als negativen Mythos die Vorstellung in sich, dass sie sie für das Schreiben nicht kreativ genug sind. Deshalb fordere ich sie in meinen Schreibseminaren dazu auf, zehn Minuten mit der Stoppuhr zu schreiben, und zwar ganz egal was. Auf dem Papier kann BBB Blöd, Blau, 7:30 Uhr stehen, es spielt wirklich keine Rolle. Danach ist der Beweis erbracht, dass man schreiben kann. Über das vermeintliche Unvermögen braucht man also nicht weiter zu diskutieren. Viele sind im Anschluss ungeheuer stolz, etwas zu Papier gebracht zu haben.
Und wie sieht eine Schreibübung in Ihrem Buch aus?
Auch hier versuche ich, die Hürde des Anfangs kleiner zu machen. Dafür gebe ich über drei Monate hinweg jeden Tag einen Schreibimpuls in Form einer Frage oder einer Aufforderung. Dann weiß man, worüber man schreibt und auch wohin. In dem Buch befindet sich nämlich extra Raum für die Eintragung. Und auch die Dauer ist festgelegt, ungefähr zehn bis 15 Minuten.
In einem Schreibimpuls soll man sich die eigenen körperlichen Beschwerden als einen Gast vorstellen, den man zu sich nach Hause einlädt.
Genau. Wie verläuft das Treffen, ist eine Frage, die man sich in diesem Zusammenhang stellen kann. Was erfahre ich dabei über meine Beschwerden? Ein weiterer Impuls ist, sich zu überlegen, an welchen Aktivitäten einen die körperlichen Beschwerden hindern. Und wofür sind sie vielleicht sogar gut? Durch das Schreiben gewinnen wir einen Zugang zu unserem Körper.
Sie sind Professorin für Journalismus an der Hochschule Darmstadt hat. Schreiben Sie selbst täglich?
Ja. In Form von kurzen Selbstreflexionen. Ich vergewissere mich dabei, wie es mir geht, was mich belastet. Kurz: was in meinem Leben gerade los ist.
Wie sind Sie selbst zum Schreiben gekommen?
Ich habe schon als Kind gerne Tagebuch geschrieben. Während meines Medizinstudiums in der psychosomatischen Abteilung einer Klinik nahm ich schließlich an dem Schreibkurs einer Germanistin teil und war begeistert. Die Initialzündung für meine Doktorarbeit zum Thema Selbstheilung durch Schreiben war letztlich aber eine eher negative Begebenheit. Und zwar hatte jemand abfällig zu mir gesagt: „Dann schreib halt, wenn es dir hilft.“ Ich wollte beweisen, dass sogar renommierte Schriftsteller letztlich nichts anderes tun, als sich mit dem Schreiben selbst zu helfen. Ich habe über Peter Handke promoviert, der in der Erzählung „Wunschloses Unglück“ den Tod seiner Mutter verarbeitet. In der Psychiatrie der Schweizer Privatklinik Meiringen habe ich das Schreiben schließlich als Therapieform eingeführt. Es hatte so einen Zulauf, dass ich dem Thema mehrere Bücher gewidmet habe.
Kann sich jeder mit dem Schreiben ein Stück weit selbst helfen und heilen?
Die Voraussetzung dafür ist natürlich, dass jemand gerne schreibt. Hat jemand keinen Zugang zum Schreiben, quält er sich und kommt entsprechend wohl mit anderen Therapieformen besser zurecht. Aber Menschen mit einer gewissen Affinität zur Sprache profitieren auf jeden Fall davon. Schreiben ist wirklich ein großes Erkenntnisinstrument. Ein Tool der Selbstreflexion.
Gibt es auch psychische Erkrankungen, bei denen man besser nicht schreiben sollte?
Schizophrene Menschen mit einer akuten Psychose sollten davon Abstand nehmen. Weil sie ohnehin vorübergehend in einem chaotischen Zustand sind, den das freie Schreiben ungünstig verstärken könnte. Auch bei einer Depression besteht die Gefahr, sich in Grübelschleifen und negative Gedankenspiralen hineinzuschreiben. Um diese Gefahr zu minimieren, würde ich ein Thema vorgeben und ein Zeitlimit von etwa zehn Minuten setzen.
Ist es wichtig, ob man morgens oder abends schreibt?
Das ist völlig egal. Die beste Regel ist die, die man sich selber aufstellt. Nur eine gewisse Regelmäßigkeit ist für den Erfolg wichtig. Zehn bis 15 Minuten am Tag reichen, und die kann jeder aufbringen. Wir putzen auch die Zähne und waschen täglich das Gesicht – das dauert auch nicht viel länger.
Prof. Dr. med. Silke Heimes hat nach dem Studium der Medizin und Germanistik als Ärztin in der Psychiatrie gearbeitet. Sie ist ausgebildete Poesietherapeutin und seit 2014 Professorin für Journalistik an der Hochschule Darmstadt. Als Gründerin und Leiterin des Instituts für kreatives und therapeutisches Schreiben wird sie täglich Zeugin der heilenden Wirkung des Schreibens.
KOMMENTARE