Paul Henkel, Sie haben den Blog Schreibenwirkt ins Leben gerufen. Wie kamen Sie zum regelmäßigen Tagebuch-Schreiben – zum Journaling?
Ich hab schon während der Schulzeit gerne Tagebuch und lyrische Wortschnipsel geschrieben. Als ich dann vor ungefähr 10 Jahren in eine depressive Phase gerutscht bin, habe ich das Schreiben für mich wiederentdeckt. Zuvor hatte ich über das therapeutische oder expressive Schreiben gelesen, das der Psychologieprofessor James Pennebaker in den 1980er-Jahren in den USA entwickelt hatte – als Schreibintervention zur Bewältigung von emotionalen Belastungen und Traumata.
Inwiefern hatte Ihnen das Schreiben geholfen?
Vor dem Schreiben konnte ich meine Probleme nicht immer so klar benennen, durch das Schreiben sind sie mir bewusster geworden. Es hat mir auch geholfen, überhaupt wieder in Kontakt mit meinen Gefühlen zu kommen. Und so ein Tagebuch, so ein Notizbuch, bringt Ruhe mit sich. Es hört zu – mit Ausdauer. Durch den Prozess des täglichen Schreibens ging es mir dann zunehmend besser, ich hab immer mehr innere Klarheit gewonnen.
Haben Sie parallel auch eine Therapie gemacht?
Ja. Wenn man in einer Krise mit Krankheitswert steckt, dann bringt das Journaling allein vermutlich keine Heilung. Journaling ersetzt keine Therapie, ist aber eine super Ergänzung.
Schreiben Sie heute immer noch täglich?
Ich schreibe mal mehr, mal weniger regelmäßig – je nachdem, wie ich Zeit und Muße habe und je nachdem, ob gerade persönliche Herausforderungen anstehen. Es ist ein Tool für mich, ein Handwerkszeug, das mich unterstützt, wenn ich es brauche. Aber ich muss mich da nicht zum Sklaven machen und irgendwelche Persönlichkeitsoptimierungen durchführen.
Wie sieht Ihr tägliches Schreibritual aus?
Es variiert. Momentan schreibe ich am liebsten abends kurz vor dem Einschlafen zu Instrumentalmusik. Ich setze mich ins Bett, klappe mein Notizbuch auf und schreibe. Was war wichtig? Was habe ich gelernt? Was habe ich gemacht? Oft schreibe ich auch einfach drauf los und gucke, was kommt. Manchmal bin ich überrascht, was mich beschäftigt. Das sind dann vergrabene Emotionen, Ängste, aber auch kreative Ideen, die sonst vielleicht gar nicht so den Raum hätten, an die Oberfläche zu kommen.
Lesen Sie sich später das Geschriebene nochmal durch?
Teilweise. Es ist manchmal interessant, nach Jahren die Notizbücher durchzublättern und festzustellen, dass sich bestimmte Themen über längere Phasen wiederholen. Dann lösen sie sich scheinbar auf, und andere Inhalte nehmen ihren Platz ein. Es gibt aber auch Notizbücher, die ich einfach wegwerfe, weil ich merke, dass sich in dem Geschriebenen keine längeren, zusammenhängenden Inhalte verbergen. Das macht aber nichts. Es geht mir ja nicht darum, eine Bibliothek oder Lebenschronik anzulegen, sondern das Schreiben tut mir in dem Moment gut und bringt mich weiter – und das ist das Entscheidende. Es entfaltet seine Wirkung jenseits des Blatt Papiers, in meinem Leben.
Die amerikanische Künstlerin Julia Cameron hat die sogenannten Morgenseiten bekannt gemacht. Was hat es damit auf sich?
Dabei geht es um eine Form des automatischen Schreibens: Man schreibt morgens direkt nach dem Aufwachen, und zwar im Grunde ohne den Stift abzusetzen. Die Methode soll vor allem Kreativität fördern. Soweit ich weiß, erklärt Julia Cameron gar nicht, warum die Morning Pages als Kreativitätstechnik funktionieren, aber andere Wissenschaftler*innen haben sich mit dem Flow-Zustand beschäftigt. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass sich das Gehirn kurz nach dem Aufwachen im Zustand relativ langsamer Alpha-Wellen befindet, die als eine Art Tor zur Meditation beschrieben werden und auch bei Tagträumen auftreten und bei Visualisierungen messbar sind. In ihnen soll man empfänglicher für Botschaften des Unbewussten sein. Im Gegensatz zu den Beta-Wellen, die unser Alltagsbewusstsein bestimmen. Insofern nutzt man bei den Morgenseiten den Effekt der Alpha-Wellen für einen Zugang zur eigenen Kreativität.
Welche Arten von Schreiben gibt es noch? Sie bieten auf Ihrem Blog verschiedene Möglichkeiten an.
Es gibt ganz viele Journaling-Methoden. Wer bislang gar keine Berührungspunkte hat, kann vielleicht mal mit dem 5-Minuten-Journal anfangen. Man setzt sich hin und beantwortet fünf Minuten lang einige Leitfragen wie: Wofür bin ich dankbar? Was möchte ich mir heute Gutes tun? Damit man eben nicht vor einem weißen Blatt sitzt und nicht weiterweiß. Das 5-Minuten-Tagebuch ist so etwas wie das Aspirin des Journaling. Nach ein paar Tagen stellt man möglicherweise fest, dass sich der eigene Stress reduziert hat und man sich insgesamt besser fühlt. Genauso gibt es Satzvervollständigungen, wo man vorgegebene Sätze zu Ende führt. Ich arbeite auch gerne mit themenspezifischen Impulsen, über die man schreibend reflektiert und die eine intensivere Auseinandersetzung über mehrere Tage oder Wochen anleiten.
Sie bieten auch das Arbeitsblatt „Negative Gedanken hinterfragen“ an.
Ja. Ich habe viele Blog-Leser, die mit Depressionen und Ängsten zu tun haben und sich insbesondere für Methoden interessieren, mit denen sie herausfinden können, warum es ihnen geht, wie es ihnen geht. Wie gesagt, das Schreiben ersetzt keine Therapie, es lässt sich aber gut mit einer kombinieren.
Wie können Sie als Journaling-Coach helfen?
Ich begleite Menschen, die das Schreiben nutzen möchten, um persönliche Lebensthemen zu klären, aber bisher nicht richtig weitergekommen sind. Wir finden dann in Video Calls und E-Mails gemeinsam heraus, welche Blockaden sie zurückhalten, entwickeln neue Perspektiven und klären, mit welchen Journaling-Methoden sie unabhängig weiterarbeiten können. Oft geht es darum, gesunde Gewohnheiten zu etablieren oder eine freundlichere Beziehung zu sich selbst zu entwickeln.
Wie kann ich für mich allein herausfinden, was für mich das Beste ist?
Letztlich einfach durch Ausprobieren. Es hat ja keinen Sinn, etwas zu machen, von dem Studien sagen, dass es gut sei, man selbst aber wird mit der Methode nicht warm. Wenn man zum Beispiel feststellt, dass das freie Schreiben morgens subjektiv nichts taugt, dann kann man sich abends hinsetzen oder auch mitten am Tag. Ich würde einfach darauf achten, dass es sich für mich stimmig anfühlt.
Spielt es eine Rolle, ob man mit der Hand oder mit dem Computer schreibt?
Die Wissenschaft sagt, es spielt eine Rolle: Beim handschriftlichen Schreiben sind mehr Hirnregionen aktiv. Man prägt sich das Geschriebene leichter und nachhaltiger ein. Aber ich würde sagen: Wenn jemand sehr ungerne mit der Hand schreibt, ist es immer noch besser, am Handy oder am Rechner zu tippen, als gar nicht.
Welchen Tipp haben Sie für Einsteiger?
Ich würde versuchen, mich dem Schreiben ohne Leistungsdruck anzunähern. Denn sonst nimmt man sich etwas von dem Effekt, den es haben kann. Das Journaling lebt davon, dass man es nur für sich macht, frei von Fremdbewertungen und eigenen Erwartungen. Dann kommt man in Kontakt mit dem, was einen wirklich, wirklich beschäftigt. Und darum geht es ja letztlich.
Was mögen Sie außerdem am Schreiben?
Schreiben ist auf jeden Fall sehr entstressend. Es hilft meiner Erfahrung nach, zufriedener mit dem eigenen Leben zu werden und bestimmte Probleme leichter aufzulösen.
Danke für das Gespräch.
Paul Henkel
arbeitet als Texter und Autor. Außerdem bietet er auf seinem Blog schreibenwirkt Coaching an für Menschen, die gerne die Heilkraft des Schreibens für sich nutzen möchten.
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