Frau Dr. Fehm, kennt jeder Mensch Schüchternheit?
Studien zeigen, dass 95 bis 99 Prozent der befragten Erwachsenen von sich selbst sagen, dass sie in ihrem Leben schon einmal schüchtern waren. Insofern stelle ich es mir sehr schwierig vor, jemanden zu finden, dem Schüchternheit völlig fremd ist.
Was ist denn genau darunter zu verstehen?
Es gibt es keine klare Definition für Schüchternheit, aber die meisten Menschen verbinden damit ein unangenehmes Gefühl der Angespanntheit im Zusammensein mit anderen Menschen. Damit geht in aller Regel die Angst einher, negativ bewertet oder wahrgenommen zu werden. Das Spektrum ist recht groß. Der Begriff umfasst sowohl Menschen, die nur manchmal schüchtern sind genauso wie solche, die sich ausgesprochen oft schüchtern fühlen. Grundsätzlich aber gilt Schüchternheit in der Psychologie als Persönlichkeitsmerkmal – als Temperament.
In welchen Situationen tritt Schüchternheit vor allem auf?
Meistens in sogenannten Leistungs- und Interaktionssituationen. Also, wenn jemand beispielsweise eine Prüfung ablegen oder vor vielen Menschen sprechen muss, wird man schüchtern. Genauso wenn man in einer Gruppe Anschluss sucht. Die Schüchternheit ist meistens dann besonders ausgeprägt, wenn man niemanden kennt und sich überwinden muss, jemanden anzusprechen.
Es gibt bei manchen Personen aber auch den umgekehrten Effekt: Wenn eine Gruppe unübersichtlich groß ist, sinkt die Schüchternheit wieder. Dann stellt sich vielleicht das Gefühl ein, dass es jetzt auch wieder egal ist, was die anderen von mir denken.
Hat Schüchternheit eine Ursache?
Wenn wir davon ausgehen, dass Schüchternheit ein weit verbreitetes Persönlichkeitsmerkmal ist, würde ich nicht nach einer Ursache suchen. Vermutlich ist Schüchternheit zum Teil angeboren. Das heißt, wenn meine Eltern sehr schüchtern sind, bin ich es möglicherweise auch. Dabei spielt jenseits der Genetik sicher auch das Modelllernen eine Rolle: Was beobachte ich als Kind bei meinen Eltern? Leben sie sehr zurückgezogen und empfangen selten Besuch, kann ich nicht so häufig miterleben, wie sie mit anderen Menschen interagieren. Wenn sie selbst in Kontakten eher zurückhaltend sind, schaue ich mir eher diese Reaktionsweisen ab. Es gibt also viele Möglichkeiten, wie sich die Zurückhaltung der Eltern auf Kinder übertragen kann.
Ist es nicht durchaus sinnvoll, wenn gerade Kinder schüchtern sind?
Doch, absolut. Kinder sind vor allem dann schüchtern, wenn sie sich in Situationen befinden, die ihnen fremd sind. Das gehemmte Verhalten schützt sie im besten Fall davor, mit Fremden mitzugehen und unvorsichtig zu sein. Das ist ja auch das, was man Kindern beibringt. Weil Schüchternheit für das Kindesalter so typisch ist, wird auch diskutiert, ob sie nicht ein wichtiger Entwicklungsschritt ist.
Sie beschäftigen sich neben Schüchternheit auch mit der sozialen Phobie. Mit einer Angststörung also, bei der sich die Betroffenen in erster Linie davor fürchten, dass andere sie peinlich oder lächerlich finden. Wo liegt der Unterschied zwischen sozialer Phobie und Schüchternheit?
Viele Autorinnen und Autoren vermeiden eine Unterscheidung, und häufig werden soziale Phobie und extreme Schüchternheit gleichgesetzt. Tatsächlich gehören die Begriffe zu zwei getrennten Forschungsdisziplinen: Die Schüchternheit gehört in den Bereich der Persönlichkeitspsychologie. Die soziale Phobie zählt hingegen zur Klinischen Psychologie und damit zu den psychischen Störungen. Bei der sozialen Phobie gibt es entsprechend eine klare Grenze, ab der man von einer Störung mit Krankheitswert spricht. Und Schüchternheit ist ein Temperamentsmerkmal und keine psychische Störung. Viele Autoren gehen aber davon aus, dass extreme Schüchternheit eine Form der sozialen Phobie ist.
Und inwiefern unterscheiden sich Schüchterne von introvertierten Menschen?
Introvertierte sind Menschen, die sehr gerne mit sich alleine sind und so ihre Zeit verbringen. Sie mögen einfach keine Partys, keine großen Gruppen, keine lauten Umgebungen. Also meiden sie sie. Aber sie empfinden dabei keinen Zwiespalt oder irgendwelche Ängste. Bei Schüchternen gibt es hingegen einen Konflikt von Motiven. Sie möchten vielleicht gerne am Rednerpult stehen, schaffen es aber nicht, über ihren eigenen Schatten zu springen.
Was raten Sie jemanden, der seine Schüchternheit überwinden möchte?
Zunächst einmal kommt es darauf an, sich klar zu machen, warum ich schüchtern bin: Was befürchte ich? Ist es die Angst, etwas verkehrt zu machen? Oder möchte ich, dass die anderen gut von mir denken? Grundsätzlich trifft ein schüchterner Mensch Annahmen über die Zukunft, die sich oftmals gar nicht bewahrheiten, die aber ein großer Hemmschuh sein können. Hier rate ich, sich seinem Problem schrittweise anzunähern. Der Klassiker: In Lehrveranstaltungen oder Gruppen etwas sagen. Am besten versucht man hier erst einmal, sich in kleineren Gruppen regelmäßig zu Wort zu melden. So kann man sich langsam an die gefürchtete, große Gruppe heranrobben. Genauso machen es sicherlich viele intuitiv, und es funktioniert. Oder man nimmt eine Freundin mit zu einer Veranstaltung, auf der man später noch mit jemandem ins Gespräch kommen möchte. Wenn ich mich immer wieder überwinde und die Erfahrung mache, dass ich es schaffe und es gut geht – dann entsteht Selbstbewusstsein, und die Schüchternheit verschwindet durch den Übungseffekt. Das habe ich auch selbst schon erlebt. Ich musste einmal während der langen Nacht der Wissenschaft fünfmal hintereinander denselben Vortrag vor einer großen Gruppe halten. Am Ende war ich völlig locker.
Über welche Stärken verfügen Schüchterne?
Hierzu gibt es meines Wissens nach keine Studien. Ich persönlich finde schüchterne und zurückhaltende Menschen sehr angenehm im Kontakt: Sie haben kein ausgeprägtes Darstellungsbedürfnis, machen sich viele Gedanken und sind oftmals sehr gute Zuhörer.
Dr. Lydia Fehm
ist Psychologische Psychotherapeutin und leitet die Ausbildungsambulanz des Zentrums für Psychotherapie der Humboldt-Universität Berlin (ZPHU). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich der Prüfungs- und Auftrittsängste sowie der sozialen Phobie und ihrer Therapie.
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