Sitzen ist das neue Rauchen

Wissenschaftler schlagen Alarm: Körperliche Inaktivität schadet uns viel mehr als lange gedacht

Sitzen ist das neue Rauchen

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Zu viel Sitzen schadet dem Körper massiv

Haben Sie es gemütlich? Sitzen Sie gerade bequem? Dann stehen Sie mal besser wieder auf. Ihr Bürostuhl, Ihr Fernsehsessel, Ihr Autositz, Ihr Computerplatz und Ihr Sofa können Ihnen sonst ernsthaft gefährlich werden. Denn eine alarmierende Erkenntnis gilt inzwischen als erwiesen: Zu viel Sitzen schadet dem Körper massiv. Es wird sogar mit dem Rauchen verglichen: Insofern, als auch hier lange niemand ahnte, WIE gefährlich es ist. Und auch einen eigenen Namen haben die Folgen des dauerhaften Herumhockens bekommen: Sitting-Disease, die Sitzkrankheit. Denn hier ist nicht die Rede vom verspannten Nacken oder vom steifen Gefühl nach einer langen Autofahrt. Die Folgen der Inaktivität können das Leben verkürzen.

Inaktivität ist für mehr als doppelt so viele Todesfälle verantwortlich wie starkes Übergewicht.

Britische Forscher haben über 300.000 Teilnehmer der europaweit durchgeführten EPIC-Studie nach ihren körperlichen Aktivitäten befragt und die Probanden über zwölf Jahre beobachtet. Das erstaunliche Ergebnis: Inaktivität ist für mehr als doppelt so viele Todesfälle verantwortlich wie starkes Übergewicht. Eine andere große amerikanische Untersuchung ergab: Sechs Stunden im Sitzen täglich erhöhen das Risiko um bis zu 40 Prozent, innerhalb der nächsten 15 Jahre zu sterben – verglichen mit jenen, die höchstens drei Stunden am Tag ohne viel Bewegung verbringen. Zu häufiges Sitzen kann Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verschiedene Tumorleiden begünstigen. Das Risiko für Typ-2-Diabetes erhöht sich sogar um erschreckende 91 Prozent, ergab eine kanadische Studie. Auf dem diesjährigen weltweit größten Kardiologenkongress in San Diego zeigten amerikanische Forscher, dass schon eine Stunde pro Tag mehr auf dem Sofa mit 14 Prozent mehr Kalk in den Herzkranzgefäßen einhergeht.

Selbst täglicher Sport kann die Folgen nicht kompensieren

Sogar Menschen, die regelmäßig joggen oder Rad fahren, bringen sich damit nicht aus der Gefahrenzone. Und das ist beinah das Erstaunlichste an den neuen Forschungsergebnissen: Selbst täglicher Sport kann die negativen Folgen von stundenlangem Sitzen nicht kompensieren. Inaktivität – und hier liegt die neue Erkenntnis – ist ein eigenständiger Risikofaktor. Der amerikanische Endokrinologie- Professor James Levine, einer der Pioniere in der Erforschung der Sitting-Disease, beschreibt es so: „Neun Stunden nahezu bewegungslos am Schreibtisch zu sitzen ist schlecht für die Gesundheit, ganz gleich, ob man abends nach Hause geht und fernsieht oder ob man sich noch ins Fitness-Studio aufmacht. Es ist schlecht, egal ob man übergewichtig ist oder dünn wie ein Marathonläufer.“ Was man an Extra-Kilos mit sich herumschleppt, hängt Levine zufolge übrigens auch hauptsächlich vom Aktivitätslevel ab: Die Schlanken sitzen zwei Stunden weniger am Tag, so das Ergebnis einer seiner Studien.

Nach ein paar Stunden fährt der Stoffwechsel komplett herunter

Der menschliche Körper ist nicht gemacht für Bewegungslosigkeit. „Jedes Mal, wenn wir mehrere Stunden sitzen, rauscht der Stoffwechsel in den Keller, die Zellen werden weniger mit Sauerstoff und Vitalstoffen versorgt“, erklärt Ingo Froböse, Professor für Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule in Köln. „ Auf Dauer treten schleichende Veränderungen ein: Die Funktionstüchtigkeit der Organe leidet, Gewebe wird weniger elastisch, Muskeln werden abgebaut, dadurch wird weniger Energieverbrannt.“ Der Körper verbraucht nur noch eine einzige Kalorie in der Minute, fast so wenig wie im Schlaf. Die meisten Menschen hingegen verbringen einen Großteil ihres Lebens im Sitzen. Genauer gesagt: durchschnittlich 7,5 Stunden an einem Wochentag, wie aus dem aktuellen Gesundheitsreport der Deutschen Sporthochschule und der Krankenversicherung DKV hervorgeht. Am meisten sitzen junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren (neun Stunden im Durchschnitt), Männer sitzen länger als Frauen, Menschen mit einem akademischen Abschluss länger als jene, die früher von der Schule abgegangen sind. Doch es ist beileibe nicht nur das große Pensum an Arbeit, das gerade junge Menschen an den Schreibtischstuhl bindet.

„71 Prozent der Männer verbringen auch ihre Mittagspause im Sitzen beim Essen“, sagt Froböse.

Ein Drittel der täglichen Sitz-Zeit verstreicht vor dem Fernseher oder dem Computer zu Hause. Und am Wochenende sitzen Menschen kaum weniger als an einem Arbeitstag: im Durchschnitt sieben Stunden. 42 Prozent der Berufstätigen bewegen sich weniger als eine halbe Stunde am Tag. Dabei ist es nicht schwer, den Gefahren der Inaktivität zu begegnen. Schon ein 20-minütiger Spaziergang am Tag verlängert deutlich die Lebenserwartung, so die EPIC-Studie.

Wer an einer Konferenz im Stehen teilnimmt, verbrennt in dieser Zeit doppelt so viel Fett wie im Sitzen, weil die Muskulatur mehr arbeiten muss. „Während es bei Sport um Trainingsanreize für den Körper geht, ist das Ziel der vielen kleinen Alltagsbewegungen, den Stoffwechsel hochzuhalten“, sagt Froböse. Schwedische Wissenschaftler vermuten sogar, dass kurze Unterbrechungen der Sitzphasen gesundheitsschonender sind als Freizeitsport.

Noch ist unklar, wie lange man ohne Schaden sitzen kann. Wie viel Sitzen allerdings gerade noch okay ist, dazu fehlen offizielle Empfehlungen bisher. An der Deutschen Sporthochschule jedoch laufen Untersuchungen zu dieser Frage. „Im Moment gehen wir von zwei bis zweieinhalb Stunden aus“, sagt der Gesundheitsexperte Froböse. Dann könnte es wieder Zeit sein für Froböses liebsten Stoffwechsel-Aktivator: das Treppenhaus.

Tipps von Professor Ingo Froböse gegen zu lange körperliche Inaktivität

Treppe statt Aufzug

Lassen Sie auch die Rolltreppe links liegen. Der Stoffwechsel-Effekt ist noch größer, wenn Sie beim Hochlaufen zwei Stufen auf einmal nehmen.

Das Telefon klingelt?

Gehen Sie beim Sprechen herum oder stehen Sie zumindest.

Fahrrad statt Auto

Legen Sie möglichst viele Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück. Oder parken Sie etwas weiter entfernt, sodass Sie noch einen Fußweg haben. Aus Bus und Bahn eine Station früher aussteigen

Ausschalten

Bleiben Sie nicht stundenlang vor dem Fernseher sitzen. Schalten Sie aus, wenn der Film, den Sie sehen wollten, zu Ende ist, und bewegen Sie sich

Während Sie sitzen

Versuchen Sie, die Sitzposition öfter zu wechseln. Verzichten Sie auf einen Schreibtischstuhl mit Rollen, stehen Sie lieber auf, wenn Sie etwas in der Nähe brauchen. Nutzen Sie Pausen ganz bewusst für kleine Spaziergänge. Stehen Sie jede Stunde zehn Minuten auf und bewegen Sie sich.


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