Stärker als Schnupfen

Grippe- und Erkältungszeit, das ist die Jahreszeit, in der Hypochonder zu wahrer Hochform auflaufen

Stärker als Schnupfen

Illustration: © Maik Brummundt

Grippe- und Erkältungszeit, das ist die Jahreszeit, in der Hypochonder zu wahrer Hochform auflaufen. In der U-Bahn halte ich die geballte Faust in der Tasche, wenn jemand – leider sind es meist mehrere gleichzeitig – beherzt durchs Abteil niest oder seinen wirklich unschönen Husten auf eine meterlange Reise schickt: eine dichte feuchte Wolke, in der sich Bakterien und Viren ähnlich wohlfühlen wie, sagen wir, Blumen im Gewächshaus. Am liebsten würde man jetzt das Haus nicht verlassen, denn draußen lauert Ungemach, dunkel-trübes Licht und schlecht gelaunte Menschen, die völlig schamlos mit ihren Erkältungen umgehen. Die zur Arbeit gehen, selbst wenn sie krank sind, zum Sport oder in die Sauna, weil sie sich (fälschlicherweise) dort Hilfe erwarten – aber im Grunde nur andere (vor allem Leute wie mich) hilflos machen.

Schnupfen

Vor einigen Jahren kannte ich mal einen jungen Shaolin-Mönch. Wenn eine Szene auf einen Kampf zuläuft, denkt er sehr nüchtern und völlig unemotional. In seinem Kopf läuft dann ein inneres Programm. Das ihn wählen lässt zwischen verschiedenen Kung-Fu-Stilen und weit über 100 Nervenpunkten, die er in unterschiedlicher Intensität attackieren kann. Er hat die Macht, einen überlegenen Kampf zu führen, der nicht länger dauern würde als ein Lidschlag. Wollte er sich beweisen, könnte er es jederzeit eindrucksvoll tun. Aber er muss sich nichts beweisen. Deshalb tut er in der Regel: nichts. Er verspürt keinerlei Aggression. Aber auch keinerlei Angst. Er weiß, dass die Situation in seiner Hand ist.

Um dieses Wissen beneide ich ihn. Wie gern würde auch ich völlig unaufgeregt mit virenstreuenden Menschen umgehen, die im Grunde ja eher Mitleid verdienen. Wie gern würde ich sagen können: Lass sie doch niesen, mir kann nichts passieren. Ich bin stärker als ihr Schnupfen.

Ein einziges Mal hat der Shaolin wirklich kämpfen müssen. Vier Skinheads hatten ihn im Bus angepöbelt und mit dem Kopf an eine Scheibe gestoßen. Er sagte ganz ruhig zu ihnen: „Macht das nicht, das kann weh tun.“ Sie dachten, er habe Angst und rede von seinem Schmerz. Als der Busfahrer wenig später den Krankenwagen bestellte, wussten sie, dass er ihren gemeint hatte.

Ach, wäre ich doch ein Shaolin!

 

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