Als Underachiever gelten Menschen, die viel können, aber nicht so viel leisten. Zum Beispiel ein kluges Kind, das schlecht in der Schule ist.
Frau Baudson, welche Gründe könnten dazu führen, dass Kinder ihre Fähigkeiten in der Schule nicht voll ausschöpfen?
Ganz unterschiedliche. Viele Underachiever haben nie gelernt, zu lernen. Es gibt auch Kinder, die bewusst unter dem Radar fliegen, weil sie mitbekommen haben, dass Leistung nicht so erwünscht ist. Da sind Zuschreibungen am Werke, die ich aus meiner Hochbegabtenforschung kenne. Diesen Stereotypen zufolge gelten leistungsstarke Menschen schnell als kalt und weniger sympathisch. Bei Underachievern findet man beispielsweise den Wunsch, ein guter Kerl sein zu wollen – und das lässt sich scheinbar schwer mit der hoher Leistung in Deckung bringen. Ältere spüren manchmal, dass sich ihre Eltern ein schlaues Kind vielleicht nicht so richtig leisten können, etwa weil ein späteres Hochschulstudium eine finanzielle Herausforderung wäre. Auch das kann ein Kind dazu veranlassen, tief zu stapeln.
Was passiert, wenn das Potenzial eines Kindes nicht erkannt wird?
Wenn ein Kind erst einmal eine Haupt- oder Regionalschule besucht, ist es schwer, auf den Zug für den höheren Bildungsweg wieder aufzuspringen. Vorerst zumindest. Denn es werden Chancen vergeben, die sich später nicht unbedingt aufholen lassen. Das belegen etwa Befunde aus einer US-amerikanischen Langzeitstudie, die hochbegabte Jugendliche seit den 1970er Jahren begleitet.
Ein Ergebnis dieser Study of Mathematically Precocious Youth lautet: Schülerinnen und Schüler, die speziell gefördert wurden, etwa eine Klasse übersprangen, konnten ihren Vorsprung weiter ausbauen. Umgekehrt hat es Konsequenzen, wenn Förderung fehlt. Man kann sich natürlich immer weiterentwickeln. Aber das Schulsystem in Deutschland ist sehr undurchlässig. Es ist schwierig, von der Hauptschule aufs Gymnasium zu wechseln.
Welche gesundheitlichen Auswirkungen kann es haben, wenn man unter seinen Möglichkeiten lebt und sein Intelligenz-Potenzial nicht ausschöpft?
Leistung ist in unserer Gesellschaft ein wichtiger Faktor für das persönliche Ansehen. Entsprechend erhalten Menschen, die weniger Leistung erbringen, als sie können, weniger Anerkennung, als möglich wäre. Und das führt zu Stress mit all seinen bekannten Auswirkungen auf Körper und Geist. Underachievement kann krank machen.
Wie lassen sich Underachiever in jungen Jahren erkennen?
Da liegt sehr viel Verantwortung bei den Lehrkräften. Sie sollen nicht nur beurteilen, ob das Kind das abrufen kann, was gelehrt wird. Sie sollen auch noch das Potenzial einschätzen können. Von den Lehrkräften wird da wirklich sehr viel verlangt, denn der Zugang zum Potenzial eines Menschen ist nicht leicht. Eine Möglichkeit zur Einschätzung sind standardisierte Tests, wie sie beispielsweise in den USA häufig zum Einsatz kommen. In Deutschland gibt es aber viele Vorurteile gegen solche Tests.
Weil man Angst hat, ein IQ-Test legt fest und stigmatisiert?
Ja. Dabei bringt ein IQ-Test oftmals nur eine bislang unbekannte Information. Das ist, wie wenn zwei Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven auf eine Landschaft schauen. Beide Perspektiven sind interessant und sagen etwas über die Landschaft aus. Ergibt ein IQ-Test etwas anderes als das, was Lehrkräfte, Eltern oder Getestete erwartet hätten, dann sollte der erste Gedanke immer sein: Das ist ja interessant! Und nicht: Der IQ-Test stimmt nicht. Oder: Mit mir stimmt was nicht. Man kann überlegen, wie die Abweichungen zustande kommen und wie sie sich zusammenbringen lassen. Hat man etwas übersehen? Und wenn ja: Was?
Was ist mit erwachsenen Underachievern?
Es gibt wirklich tragische Biografien von Menschen, die in dem Gefühl aufgewachsen sind, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Vielleicht haben sie aufgrund ihrer schnellen Auffassungsgabe viele Fragen gestellt, die ihre Mitmenschen seltsam fanden – und sie haben daraus den Schluss gezogen, dass sie ‚doof‘ sind, obwohl genau das Gegenteil der Fall ist. Sie haben die negative Wahrnehmung in sich verankert und leben damit. Häufig auch mit niedrigen Schulabschlüssen, die es ihnen unmöglich machen, sich auf herausfordernde Stellen zu bewerben.
Wie können erwachsene Underachiever bemerken, dass sie Underachiever sind?
Sie müssen zunächst einmal einen Zweifel bekommen. Vielleicht stellen sie fest und spüren intuitiv, dass sie mehr drauf haben, als ihr Beruf ihnen abverlangt. Oder sie bewegen sich in einem Umfeld, das eigentlich nicht so gut zu ihnen passt. Genauso kann es sein, dass andere sie darauf ansprechen und sich über ihre Berufswahl oder einen niedrigen Schulabschluss wundern. Eben weil sie ihnen mehr zutrauen würden.
Was raten Sie dann?
Das Nächstliegende wäre, einen IQ-Test zu machen. Recht günstige Gruppentests bietet der Hochbegabtenverein Mensa in Deutschland an. Wer leicht gestresst von so einer Prüfungssituation ist, kann auch einen Einzeltest bei einem niedergelassenen Psychologen oder einer Psychologin vereinbaren.
Auf einen IQ-Test bereitet man sich ja nicht vor.
Genau. Das sollte man auch gar nicht. Im Test geht es darum, sich ein realistisches Bild über die eigenen Fähigkeiten zu verschaffen. Würde man sich darauf vorbereiten, würde man sich in die eigene Tasche lügen.
Je nach Ergebnis kann man dann feststellen, ob man in seinem beruflichen Alltag zum Beispiel unterfordert ist.
Ja. Offensichtlich ist es bei einer Hochbegabung. Von intellektueller Hochbegabung sprechen wir ab einem IQ von 130. Aber genauso ist man ein Underachiever, wenn man von der Intelligenz her im oberen Durchschnittsbereich liegt und man arbeitet in einem Beruf, für den eine eher unterdurchschnittliche Intelligenz nötig ist. Underachievement ist grundsätzlich immer möglich, egal, wie intelligent man ist.
Zum Beispiel, wenn man einen durchschnittlichen Wert von 100 erreicht, und man arbeitet in einem Bereich, in dem kognitive Fähigkeiten nicht so wichtig sind.
Ja. Wobei das wirklich nicht bedeuten muss, dass man unglücklich mit dieser Konstellation sein muss. Es gibt Menschen, die arrangieren sich gut mit den Umständen und sind zufrieden, weil sich ihr geistiges Futter in der Freizeit holen. Oder sie haben sich den Beruf ausgesucht, den sie machen, weil sie ihn wirklich gerne mögen. In dem Fall gibt es natürlich keinen Handlungsbedarf. Aber wenn man sich im Job unterfordert fühlt und sich aufgrund seiner fehlenden Qualifikation nicht für höhere Posten bewerben kann, könnte man sich schon mit den Möglichkeiten einer Weiterbildung beschäftigen.
Ich kenne Menschen, die mit 50 angefangen haben zu studieren. In dem Alter hat man nicht mehr alle Freiheiten, das ist klar, man muss realistisch bleiben. Aber man kann sich fragen, welche Ziele man noch hat, und welche Bereiche im Leben einen unglücklich machen. Und dann kann man durchaus durch Weiterbildung für sich zum Positiven verändern. Wenn man daran denkt, dass das Gefühl von Unterforderung ein mitunter stressiges ist, kann sich das sehr lohnen.

Dr. Tanja Gabriele Baudson
ist eine deutsche Psychologin und Begabtenforscherin, die der Deutsche Hochschulverband 2018 zur Hochschullehrerin des Jahres kürte. Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind die Felder Hochbegabung, Kreativität und Intelligenz.
So entwickelte sie einen standardisierten Intelligenztest zur Erfassung der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit bei Grundschulkindern der Klassen 1–4, außerdem ein Intelligenz-Screening, das in in nur drei Minuten Testzeit eine recht genaue Einschätzung eines wichtigen Teils der Intelligenz erlaubt.
2017 war sie Mitinitiatorin des March for Science in Deutschland, bei dem insgesamt 37 000 Menschen für die Freiheit der Wissenschaft demonstrierten. Sie leitet zudem das Ressort Wissenschaft und Forschung bei dem Hochbegabtenverein Mensa in Deutschland e.V.
KOMMENTARE
Ich halte von solchen Tests nicht allzu viel, weil sie Schubladendenken hervorrufen. Meine Maxime war immer: Lieber ein gesundes Mittelmaß, als krankhafte Maßlosigkeit.
Heutzutage werden Kinder darauf „getrimmt“ stets Höchstleistungen zu vollbringen, dabei werden alle moralischen Werteurteile außer Kraft gesetzt, wie man in dieser „Ellenbogengesellschaft“ in allen Wirtschaftsbereichen beobachten kann.
Ich kann mit diesem neuen Begriff „Underachiever“ absolut nichts anfangen und finde ihn sogar deplatziert. Im Prinzip möchten alle nur noch studieren und viel Geld verdienen, dabei ist körperliche Arbeit das, was die eigentlichen Werte schafft, nicht der zweidimensionale digitale „Guckkasten“.
Wichtig ist es, Kinder zu selbstbewussten Menschen zu erziehen, die auch mit negativen Erfahrungen lernen umzugehen.