Jennifer, du bist 2017 mit der Erkrankung Borderline an die Öffentlichkeit gegangen, nachdem du dich bei der Redaktion des YouTube-Kanals „Die Frage“ gemeldet hattest. Dein Video ging anschließend viral. Wie war es für dich, mit Anfang 20 und einer psychischen Erkrankung im Licht der Öffentlichkeit zu stehen?
Ich glaube, dadurch, dass es so schnell vonstatten ging, innerhalb von nur wenigen Tagen oder einer Woche, hatte ich nicht so viel Zeit, darüber nachzudenken. Sonst hätte ich es mir vielleicht noch mal anders überlegt. Und dann ist etwas passiert, was mich sehr überrascht hat. Mir haben nämlich ehr viele Leute geschrieben. Darunter auch Menschen aus meinem Umfeld. Sie haben sich bedankt für meine Offenheit und haben mir ihre eigenen Geschichten und Probleme berichtet. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass ich nicht alleine mit der Erkrankung bin. Außerdem fiel mir auf, dass es gut ist, wenn jemand so offen und ehrlich über etwas spricht, über was so ungerne gesprochen wird.
Hätte dir es damals geholfen, wenn du jemanden gehabt hättest, der sich öffentlich äußert?
Ich habe mir auf jeden Fall immer gewünscht, dass es eine Person gibt, mit der ich mich identifizieren kann.
Du hast im Alter von 13 Jahren in dein Tagebuch geschrieben, dass du das Gefühl hast, dass du keine 20 Jahre alt wird. So schlecht ging es dir damals. Mit 16 hast du schließlich die Diagnose Borderline erhalten. Wie fühlte sich das an?
Mir wurde die Diagnose während meines ersten Klinikaufenthaltes übermittelt. Mit 13 Jahren ist es sehr früh, denn eine Persönlichkeitsstörung wie Borderline wird meistens nicht vor dem 18. Lebensjahr gestellt. Einfach aus dem Grund, dass die Erkrankung sehr schwerwiegend ist. Außerdem ist die Persönlichkeitsentwicklung in dem Alter noch nicht abgeschlossen. Als man es mir sagte, wusste ich nicht, was Borderline ist. Ich habe den Begriff gegoogelt und den Wikipedia-Eintrag gelesen. Das war einfach nur furchtbar für mich. Bin ich jetzt auch jemand, vor dem alle Abstand halten sollen müssen, habe ich mich gefragt. Zu dem man am besten keine Beziehung aufbaut? Ich war sehr eingeschüchtert und auch sehr traurig.
Du hast sehr viel ausprobiert: Du hast Psychotherapie gemacht, Kunsttherapie, progressive Muskelentspannung und vieles andere. Und du sagst, du hast kein Geheimrezept. Aber du willst mit Deinem Buch Mut machen, sich auf den Weg zu begeben. Vor allem am Anfang dürfte gerade das ja eine große Hürde sein.
Ja, absolut. Vor allem, wenn man mit depressiven Episoden zu kämpfen hat und mit Antriebslosigkeit. In diesen Phasen der Lethargie ist es schwierig, überhaupt aufzustehen. Und dann kommt jemand und sagt: „Versuch es doch mal mit Yoga!“. Wie soll ich Yoga machen, wenn ich mich noch nicht einmal aus meinem Bett bewegen kann?
Du erwähnst in diesem Zusammenhang die 2-Minuten-Regel. Was besagt sie?
Prinzipiell besagt die Regel, dass man alles, was kürzer als zwei Minuten dauert, sofort erledigen soll. Zwei Minuten finde ich fast auch schon zu viel, wenn man sich in einer Phase befindet, in der gar nichts geht. Deswegen habe ich damals mit 30 Sekunden angefangen. Alles, was nicht länger als 30 Sekunden dauert, habe ich sofort gemacht. Die Socken vom Boden aufheben zum Beispiel. Ich glaube, wenn man sich auf diese kleinen Schritte konzentriert, dann funktioniert es, und man hat kleine Erfolgserlebnisse. Dabei geht es nicht um große Vorsätze. Es geht nicht darum, dass es mir nächste Woche gut geht oder ich in zwei Wochen einen Marathon laufe. Sondern darum, in Bewegung zu kommen, aufzustehen, anzufangen. Das kann sehr helfen.
Du stellst auch drei Dinge heraus, die wichtig für deine Heilung waren. Welche sind das?
Fake it until you make it. Ich habe viele Situationen in meinem Leben meistern können, indem ich so getan habe, als ob ich es könnte. Sei es einen Vortrag zu halten oder in die Öffentlichkeit zu gehen und über meine Erkrankung zu sprechen. Ich habe mich jeweils nicht als top-qualifiziert empfunden. Aber ich bin in die Dinge hinein gewachsen. So war es für mich auch mit dem Selbstbewusstsein. Ich hab öfter so getan, als ob ich selbstbewusst bin. Und eines Tages bin ich aufgewacht und dachte: Cool! Ich bin wirklich selbstbewusst! Jetzt fühle ich es!
Und das zweite?
Das zweite ist: Nur wer spricht, dem kann geholfen werden. Was so viel bedeutet wie: Wenn du nicht sagst, wie es dir geht, wird es niemand wissen. Ich habe viele Jahre lang versucht, meinen Schmerz zu zeigen, indem ich nicht gegessen habe. Oder indem ich mich selbst verletzt habe. Und gleichzeitig habe ich versucht, meine Gefühle zu verstecken, damit sie bloß niemand sieht. Inzwischen habe ich gelernt: Niemand wird jemals wissen, wie es mir geht, wenn ich es nicht ausspreche. Und ich kann auch nicht wissen, wie es meinem Gegenüber geht, wenn es sich mir nicht mitteilt. Daraus ergibt sich die dritte Sache, die mir geholfen hat. Nämlich, dass ich niemals wissen werde, wie es meinem Gegenüber geht, wenn er oder sie es nicht sagt. Das bedeutet gleichzeitig, dass ich mir auch nicht die ganze Zeit Sorgen machen muss, was andere Leute denken oder fühlen. Ich kann es im Endeffekt nicht wissen. Diese Einsicht hat im Umgang mit anderen Menschen eine Last von mir genommen. Weil ich ja doch immer sehr angestrengt und darauf konzentriert war, zu erahnen und zu erfühlen, wie sich mein Gegenüber fühlt.
Es geht also darum, bei sich selbst zu bleiben und um sich selbst zu kümmern. Auch durch, wie du schreibst, grundlegende Dinge wie genug schlafen, essen und Wasser trinken. Warum ist es so wichtig, psychische Erkrankungen öffentlich sichtbar zu machen?
Weil psychische Erkrankungen so stigmatisiert sind, dass es Menschenleben kostet. Das kann man in der Härte durchaus sagen. Es nehmen sich jährlich so viele Menschen das Leben – und das geschieht unter anderem deshalb, weil so wenig darüber gesprochen wird.
Wenn du zurückgehen könntest – was würdest du dir selber raten?
Ich glaube, ich würde mir raten, durchzuhalten. Es lohnt sich, durchzuhalten. Und mit jemandem zu sprechen. Und zwar ehrlich.
Das Gespräch in einer etwas längeren Fassung gibt es hier zum Nachhören.
Jennifer Wrona
ist in Süddeutschland aufgewachsen und studiert nun Digitale Medienproduktion an der Hochschule Bremerhaven. Sie spricht als Autorin und Kolumnistin über psychische Gesundheit, außerdem gestaltet sie Grafiken und Videoproduktionen. Bei Instagram ist sie unter dem Namen Limelu zu finden. Ihr Buch „Konfettiregen im Kopf – Leben mit Borderline. Wie es sich anfühlt. Wie man damit umgeht. Was wirklich hilft.“ ist Anfang des Jahres im Thieme-Verlag erschienen.
KOMMENTARE