Haben Sie Ihren Blutzuckerwert im Blick? Wenn er okay ist, können Sie sich zurücklehnen – falls Sie ein Mann sind. Sind Sie eine Frau, sollten Sie zusätzlich Ihre sogenannte Glukosetoleranz testen lassen, auch wenn das viel aufwendiger ist. Nur dann können Sie sicher sein, dass Sie nicht doch im Begriff sind, einen Diabetes (Zuckerkrankheit) zu entwickeln. Denn die Fähigkeit, Zucker aus dem Blut in die Zellen zu schleusen, ist bei Frauen oft schon gestört, wenn die Blutzuckerwerte noch ganz gut aussehen. Das ist der Grund, warum Diabetes bei Frauen oft lange nicht diagnostiziert wird, wenn nur auf den Nüchternblutzuckertest geschaut wird.
Umgekehrt bleiben bei Männern Depressionen unerkannt, beklagten Experten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde auf dem diesjährigen Männergesundheitskongress. Denn sie sind nicht unbedingt antriebslos und niedergeschlagen, manche macht die Depression eher wütend, gereizt und aggressiv.
Ein Umdenken ist erforderlich
Männer und Frauen werden unterschiedlich krank, diese Erkenntnis ist inzwischen in beinah alle Bereiche der Medizin vorgedrungen. Und oft müssen sie deshalb auch unterschiedlich behandelt werden. Was simpel klingt, bedeutet ein Umdenken auf einem Gebiet, auf dem das Geschlecht bis vor kurzem kaum eine Rolle spielte. Die Medizin war lange rein männlich geprägt. Man ging ganz einfach davon aus, dass Befunde und Forschungsergebnisse, die bei Männern erhoben wurden, auch für Frauenkörper gelten. Doch vor rund 15 Jahren hat sich eine neue Disziplin etabliert, die all jene gar nicht so kleinen Unterschiede zwischen Männern und Frauen erforscht, die etwa durch Genetik oder Geschlechtshormone, aber auch durch die Gesellschaft verursacht werden: die Gendermedizin, abgeleitet vom englischen Wort Gender (Geschlecht). Auch wenn viele Wissenslücken vor allem Frauen betreffen, richtet sich der Fokus dieser neuen Wissenschaft auf beide Geschlechter. Das Ziel: Frauen UND Männern eine schnellere Diagnose ihrer jeweiligen Probleme zu ermöglichen und eine passgenaue Therapie.
Rauchen und Stress sind für Frauen gefährlicher
Am besten ist bis heute erforscht, wie sich die Herzen von Männern und Frauen unterscheiden, etwa bei einem Infarkt. „In 50 Prozent der Fälle schildern Frauen eine andere Symptomatik als Männer“, sagt die Berliner Kardiologin Dr. Natascha Hess von der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. Also nicht unbedingt die typischen starken Schmerzen in der Brust, sondern zum Beispiel Schmerzen im Unterkiefer oder Übelkeit. Ihr Troponinwert, der zur Diagnose von Herzinfarkten herangezogen wird, steigt weniger stark an als bei Männern, zeigte gerade eine britische Studie. Doch der Grenzwert gilt für beide Geschlechter – ein weiterer Grund, warum viele Infarkte bei Frauen übersehen werden. Hinzukommt, dass viele Frauen und auch manche Mediziner Herzerkrankungen nach wie vor für eine typische Männersache halten und darum gar nicht drauf kommen, was los ist.
In 50 Prozent der Fälle schildern Frauen eine andere Symptomatik als Männer.“
Besonders gilt das für jüngere Frauen, unter denen Infarkte zuletzt vermehrt auftraten. Dass Frauen in der ersten Lebenshälfte häufiger Herzprobleme haben als früher, könnte an ihrem Lebensstil liegen – heute rauchen anteilig mehr junge Frauen als zuvor. Das ist für sie besonders schädlich: Raucherinnen haben ein um 25 Prozent höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Raucher. Eine aktuelle Studie zeigt außerdem, dass Stress gerade bei Frauen ein entscheidender Risikofaktor für das Auftreten und den schlechten Verlauf eines Herzinfarktes ist.
Die Sache mit dem Zyklus
Bei Diabetes sind Frauen häufig schon ganz zu Beginn der Erkrankung in schlechterer Verfassung. „Wir sehen bei ihnen mehr Entzündungsfaktoren, die Blutfette sind stärker verändert, sie haben mehr Zusatzprobleme“, sagt Professorin Alexandra Kautzky-Willer, Leiterin des Universitätslehrgangs für Gendermedizin an der Medizinischen Universität Wien. Das hat Folgen: Eine an Diabetes erkrankte Frau ist dreimal so stark gefährdet, einen Herzinfarkt zu bekommen, wie ein Mann mit derselben Diagnose.
Auch erleiden Diabetikerinnen häufiger einen Schlaganfall oder bekommen eine Depression. Insgesamt tragen sie ein größeres Risiko als männliche Patienten, früh zu sterben. Möglicherweise auch, weil Frauen schwieriger zu behandeln sind als Männer: „Frauen sind stärker gefährdet für eine Unterzuckerung, denn die Blutzuckerwerte lassen sich auch wegen ihrer hormonellen Lage schwerer einstellen“, so Kautzky-Willer. Deshalb müsse das Insulin bei Frauen besonders vorsichtig dosiert werden.
Die hormonellen Schwankungen bei Frauen sind zudem der wesentliche Grund, warum bis in die 1990er Jahre hinein Medikamente in klinischen Studien fast ausschließlich an Männern getestet wurden: Männer haben weder einen Monatszyklus noch eine Menopause, die Einfluss auf die Medikamentenwirksamkeit nehmen können, und es muss auch keine Schwangerschaft sicher ausgeschlossen werden. Nebenwirkungen, die erst entdeckt werden, wenn das Medikament schon lange zugelassen ist, betreffen häufiger das weibliche Geschlecht.
Manche Medikamente bauen Männer deutlich schneller ab
Inzwischen weiß man: Männer und Frauen verstoffwechseln viele Wirkstoffe unterschiedlich, zum Beispiel baut eine männliche Leber bestimmte Stoffe schneller ab als eine weibliche. Frauen sprechen stärker auf das Schmerzmittel Morphin an und scheiden verschiedene Krebsmittel langsamer aus – Medikamente enthalten deshalb manchmal für Frauen zu viel Wirkstoff. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat die empfohlene Dosis des Schlafmittels Zolpidem für Frauen halbiert, als bekannt wurde, dass zahlreiche Frauen am nächsten Morgen noch so viel davon im Blut hatten, dass ihre Fähigkeit zum Autofahren herabgesetzt war. Doch längst nicht immer schlagen sich solche Erkenntnisse in eindeutigen Empfehlungen nieder.
„Dass viele Ärzte Blutdruckmedikamente wie Betablocker und CSE-Hemmer, die das Blutfettsenken, für Frauen niedriger dosieren, ist reines Erfahrungswissen“, so Natascha Hess. Und noch immer sind 60 Prozent aller Patienten, die wegen schwerer Arzneimittelnebenwirkungen ins Krankenhaus eingeliefert werden, Frauen. Während viele der neuen Einsichten einen Weg in die Hörsäle der Universitäten gefunden haben, scheinen sie beim alltäglichen Arztbesuch bisher kaum eine Rolle zu spielen.
Gerade bei unklaren Symptomen wird ohne entsprechendes Hintergrundwissen nicht unbedingt gezielt nachgefragt“, sagt Natascha Hess.
Es gibt bis heute kaum Spezialisten, gerade mal zwölf Ärztinnen bundesweit tragen die Zusatzbezeichnung „Gendermedizinerin“ der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. Natascha Hess und eine weitere sind niedergelassen, die anderen arbeiten vor allem in der Wissenschaft. Noch immer ist es viel zu wenigen Patienten und Ärzten bewusst, wie sehr sich die Geschlechter auch bei Erkrankungen unterscheiden. Inzwischen gibt es jedoch viele Bestrebungen, das Geschlecht angemessener zu berücksichtigen.
Seit 2011 müssen Arzneimittelhersteller eine geschlechtsspezifische Auswertung ihrer Studien öffentlich machen, wenn sie ein neues Produkt herausbringen. Voraussichtlich Mitte kommenden Jahres tritt eine EU-Verordnung in Kraft, nach der im Genehmigungsantrag für klinische Studien angegeben sein muss, ob die Studienteilnehmer die zu behandelnden Bevölkerungsgruppen abbilden. Viele Forscher fordern sogar, männliche und weibliche Labortiere getrennt zu untersuchen oder Zellkulturen wie Blutzellen von Männern und Frauen zu verwenden, denn hier werden bereits Unterschiede deutlich.
Doch auch die Patienten sollen erreicht werden – etwa beim Thema Prävention. Denn Männer und Frauen kümmern sich meist unterschiedlich um ihre Gesundheit. Frauen ernähren sich generell gesünder, dafür treiben Männer mehr Sport. Frauen rauchen anders, sie haben häufig Sorge, durch einen Rauchstopp an Gewicht zuzulegen. Jeder vierte Mann ist noch nie bei einer Früherkennungsuntersuchung gewesen, unter den Frauen nur jede 15te.
Gesucht: unterschiedliche Präventionsangebote für sie und ihn
„Gerade hier wäre es wichtig, wenn es für beide Seiten spezifische Angebote gäbe“, sagt Alexandra Kautzky-Willer. Ein Anfang immerhin ist gemacht: Die Kampagne „Hör auf dein Herz“ will, unterstützt vom Institut für Gendermedizin an der Charité in Berlin, in Fernsehspots, auf Plakaten sowie mit einer Internetseite (www.hoeraufdeinherz.de) die Aufmerksamkeit für das Thema Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen erhöhen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Stiftung Männergesundheit haben Themenhefte extra für Männer entwickelt, zum Beispiel zu Burnout und Bluthochdruck (zum Herunterladen auf www.stiftung-maennergesundheit.de).
Und die deutsche Gesellschaft für Urologie hat kürzlich Sprechstunden speziell für Jungs in den Praxen der Urologen sowie eine Website (www.jungensprechstunde.de) eingerichtet, die deren Gesundheitsbewusstsein wecken und ihnen eine Anlaufstelle bieten sollen. Die Hoffnung der Ärzte: dass Jungen, die diese Erfahrung machen, auch als Männer medizinische Vorsorge besser für sich nutzen.
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