Entschleunigung: Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Schnell die Mails erledigen, dann ab in die Besprechung.... Stress und Hektik überall. Was passiert, wenn wir uns dem Temporausch verweigern?

Entschleunigung: Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Langsamkeit und Entschleunigung sind wichtig für die seelische und körperliche Gesundheit. ©iStock/KhunJompol

In der heutigen, schnelllebigen Zeit müssen Langsamkeit und Entschleunigung wiedererlernt werden – vor allem der Gesundheit zuliebe.

Subjektives Zeitgefühl

Sieben Sekunden muten für einen Gewichtheber, der 180 Kilogramm stemmt, wie eine halbe Ewigkeit an. Sieben Sekunden auf einer Zugfahrt mit dem Blick aus dem Fenster verfliegen hingegen im Nu. Wie schnell oder langsam Zeit verstreicht, fühlt sich je nach Situation unterschiedlich an. Doch sich einmal richtig Zeit zu lassen, ist eine Vorstellung, die vielen Menschen gefällt. Denn Hetze gibt im Alltag viel zu oft den Ton an, Stress ist die Folge. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört Stress zu den aktuell größten Gesundheitsgefahren der Gegenwart.

Die WHO schätzt, dass im Jahr 2020 jede zweite Krankmeldung am Arbeitsplatz auf Stress zurückzuführen ist.

Lob der Langsamkeit

Uwe Kliemt ist Pianist, Zeitexperte und Fan der Langsamkeit. Wenn er Beethovens achte Klaviersonate spielt, spielt er sie einmal schnell und einmal langsam. „Dieselben Noten! Aber ich entziehe ihnen durch Geschwindigkeit den Charakter, und auf einmal kommt dieses Moll, dieses Klagende, zum Ausdruck.“ Uwe Kliemt ist überzeugt: Viele klassische Stücke wurden ursprünglich langsamer gespielt. Erst in der vom Beschleunigungswahn erfassten Gegenwart wurden sie immer schneller aufgeführt – zum Beispiel, um zu zeigen, wie virtuos der Pianist seine Finger auf den Tasten bewegen kann. Die alten Komponisten würden es aber vermutlich anders machen und sich richtig schön Zeit lassen:  „Mozart klagte beispielsweise über einen Spieler, der seine Sonaten so runter gehudelt hat. Ganz klar: Je schneller eine Sache wird, desto weniger kann ich es erleben. im Übrigen ist es leichter schnell zu spielen als langsam.“

Verein zur Verzögerung der Zeit

Uwe Kliemt ist nicht nur in der Musik ein Fan der Langsamkeit. Vor ungefähr 20 Jahren stieß er zufällig auf den Verein zur Verzögerung der Zeit, einen 1990 in Österreich gegründeten Akademikerclub, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem Rad der Zeit hin und wieder mal ein Stöckchen zwischen die Speichen zu stecken. Inzwischen ist Kliemt Mitglied und hat sich wie seine Vereinskollegen dazu verpflichtet, in Situationen inne zu halten, in denen zu große Schnelligkeit nur Scheinlösungen produziert.

Auf die innere Uhr hören

Hektik und Stress entstehen, wenn die innere Uhr des Menschen nicht mit der sozialen Uhr übereinstimmt. Die soziale oder gesellschaftliche Uhr gibt beispielsweise vor, wann wir im Büro erscheinen müssen und wie lange eine Zigarettenpause ist, sagt Wissenschaftsautor Peter Spork. Sie tickt im Gegensatz zu der inneren Uhr immer schneller. „Wir müssten eigentlich der Trägheit der inneren Uhr nachgeben“, rät Peter Spork.  „Und die sagt bei den meisten Menschen, morgens länger zu schlafen und abends länger wachzubleiben.“ Im Leben der eigenen inneren Uhr zu folgen, können sich die wenigsten leisten. Doch Uwe Kliemt hat gelernt, sich im Alltag Situationen bewusst zu machen, in denen es kein Grund zur Hetze gibt. „So werde ich zum Beispiel an roten Ampeln inzwischen nicht mehr so rappelig. “

Kunst der Muße

Auf Kongressen tauschen sich die Mitglieder des Vereins zur Verzögerung der Zeit über die Kunst der Muße aus. Damit sind sie im Trend, denn die Sehnsucht nach Entschleunigung ist groß: Manche Menschen schalten das Handy am Wochenende aus, andere flüchten aufs Land oder gehen für ein Schweigewochenende ins Kloster.
Doch auch ohne solche Maßnahmen wissen die meisten, wie es geht, sich ausgiebig Zeit zu lassen. „Ein Glas Wein stürzt niemand so schnell herunter“, sagt Uwe Kliemt. „Stattdessen zelebrieren die meisten beim Trinken automatisch eine Kultur der Langsamkeit. Sie schmecken, lassen auf der Zunge zergehen – sie genießen langsam und persönlich richtigen Tempo. Da hat man die Qualität der Langsamkeit noch.“

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