Was verrät mir die Zunge über meine Gesundheit, Frau Hong?

Die Zungendiagnostik in der Traditionellen Chinesischen Medizin ist ein bisschen wie Handlesen. Nur auf die medizinische Art.

Was verrät mir die Zunge über meine Gesundheit, Frau Hong?

Regelmäßig und warm essen, möglichst unverarbeitete, selbst zubereitete Nahrungsmittel - das ist gut für die Zunge und gut für den Körper. Foto ©iStock/Deagreez

Frau Hong, haben Sie sich heute schon Ihre Zunge angeschaut?

Nein, heute noch nicht. Ich betrachte sie vielleicht einmal die Woche, und wenn ich merke, dass irgendwas im Argen liegt, die Zunge zum Beispiel sehr blass ist und ich sehr erschöpft bin, reagiere ich. Etwa, indem ich meine Ernährung anpasse.

Warum ist die Zunge in der Traditionellen Chinesischen Medizin, der TCM, so wichtig?

Die chinesische Medizin geht davon aus, dass sich im Körper die Energien Yin und Yang im Einklang befinden. Das Yin ist das Kühlende, das Entspannende, das Weibliche, das die inneren lebenswichtigen Organe wie das Herz, die Niere und die Leber versorgt. Auf der anderen Seite steht das Yang, das Feuer. Kommt es zu einer Disharmonie zwischen diesen beiden Kräften, kann man dieses Ungleichgewicht mit der Zungendiagnostik erkennen und benennen. Denn die Zunge steht laut der TCM mit dem Gehirn und den inneren Organen in Verbindung und lässt sich wie eine Karte lesen.

Wie sieht denn die Zunge eines Menschen aus, bei dem Yin und Yang im Einklang sind?

Die Zunge ist dann von hellroter Farbe und weist wenig durchsichtigen Belag auf. Manchmal ist der Belag auch weißlich – aber niemals so dick, das der Untergrund nicht mehr erkennbar wäre.

Wie gehen Sie bei der Zungendiagnostik vor?

Zuerst sehe ich mir an, WIE jemand seine Zunge herausgestreckt. Dabei stelle ich fest, wie die Beweglichkeit der Zunge ist. Ist sie zaghaft, zittrig, stark, oder geradeaus? Patienten mit einer zittrigen Zunge sind oft nervös, unruhig und ängstlich. Oder driftet die Zunge zu einer Seite ab? Hinter einem Drall nach links oder rechts könnte sich ein Hinweis auf Bluthochdruck verstecken, oder im schlimmsten Fall kündigt der Drall einen Schlaganfall an. Anschließend betrachte ich die Form der Zunge, die Farbe und den Belag. Gibt es irgendwelche Auffälligkeiten? Außerdem schaue ich mir den Zungenuntergrund an.

Können Sie mir ein Beispiel nennen?

Eine Patientin, 49 Jahre alt, kam zu mir mit Herzrasen und starker innerer Unruhe. Sie war wirklich sehr gestresst und hatte viele Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Entsprechend war ihre Zunge rot und sehr rissig.

Zunge Bild 2-1

Diese rote Zunge ist ein Zeichen dafür, dass das Feuer und die innere Hitze des Yang sehr stark geworden waren, weil das Yin so schwach ist. Gleichzeitig war ihre Zunge sehr geschwollen. Die Wassereinlagerungen, die die Frau am ganzen Körper hatte, sah man an der Zunge an den Zahnabdrücken, am welligen Zungenrand.

Wie haben Sie ihr geholfen?

Durch Akupunktur. Das hat bei ihr sehr gut angeschlagen, wie man auf diesem zweiten Bild sechs Wochen später sieht.

Zunge Bild 1

Die mittlere Furche ist kleiner geworden, die kleineren Risse sind fast verschwunden, der Zungenrand weist keine Zahnabdrücke auf, und die Zungenfarbe ist hellrot.

 

Wie oft haben Sie sie akupunktiert?

Alle zwei Wochen. Sie hat zunächst körperlich heftig reagiert, sie hatte starken Husten mit Auswurf. In dieser Form hat sie entgiftet.

Und die Patientin fühlt sich mit der rosigen Zunge besser?

Ja, sie beschreibt sich als ausgeglichener, weniger gestresst, kann sich gut konzentrieren, ist fit und entspannt. Ihre Flüssigkeitsansammlungen sind aus dem Gewebe verschwunden. Ihre Brust ist um zwei Körbchengrößen geschrumpft!

Ist die Behandlung nun abgeschlossen?

Nein, man sieht hinten im Rachen noch Schleim. Und an der Zungenspitze ist noch eine sogenannte leere Hitze, da ist die Zunge so zusammengerollt.

Vielleicht können wir mal ein paar allgemeine Zustände der Zunge durchgehen. Was bedeutet es, wenn die Zunge sehr blass ist?

Eine sehr blasse Zunge lässt auf einen Blut-Mangel schließen, und der geht mit Symptomen wie Antriebsmangel, Müdigkeit, Erschöpfung oder Frieren einher. Genauso ist bei einer blassen Zunge ein Qi-Mangel möglich – Qi wird im Westen oftmals mit „Lebenskraft“ übersetzt. Hier muss man dann wieder den Zungenkörper betrachten: Ist er gleichmäßig aufgebaut? Durchziehen Furchen seine Oberfläche? Es gibt zwar eine sogenannte Landkartenzunge, eine sehr stark zerklüftete Zunge, die in dieser Form angeboren ist. Die meisten Menschen kommen aber mit einer glatten Zunge zur Welt, und im Optimalfall bleibt die Zunge auch so im Laufe des Lebens.

Und was heißt es, wenn eine Zunge viele Furchen aufweist?

Die Zunge ist ja in Bereiche aufgeteilt, so steht die Zungenspitze für das Herz, der seitliche Bereich zeigt die Galle, das Ende steht für die Niere, die Mitte für Magen und Bauchspeicheldrüse. Anhand dessen, wo sich die Furche befindet, kann man sagen, welcher Mangel besteht, zum Beispiel ein Mangel im Bereich des Magens. Die Furchen entstehen oft durch zu viel Hetze und Stress oder traumatische Erlebnisse, genauso aber durch zu viel Kaffee, Alkohol und scharfe Nahrung. Behebt man den Mangel, stärkt also beispielsweise das Yin, dann verändert sich die Zunge. Die Oberfläche wird glatter, die Farbe hellrot, Furchen verschwinden – wie die der vorgestellten Patienten.

Was kann man selbst tun, um Yin und Yang zu stärken?

Die Traditionelle Chinesische Medizin geht davon aus, dass das, was wir essen, Medizin darstellt. Viele Chinesen wachsen entsprechend mit der Fünf-Elemente-Ernährung auf. Bei ihr sind die Lebensmittel über die Elemente Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde fünf thermischen Wirkungen zugeordnet, also kalt, kühlend, neutral, wärmend und heiß. Beim Essen sollte man auf ein Gleichgewicht achten. Das funktioniert, indem man hauptsächlich neutrale Lebensmittel zu sich nimmt wie Hafer oder Dinkel oder Gemüse wie Kartoffeln und Karotten. Außerdem ist es gut, wenn man die Speisen warm ist. Denn rohe Zutaten entziehen dem Körper Wärmeenergie, die er für sich selbst benötigt. Wenn man jetzt mit Hilfe der Zungendiagnostik einen Mangel feststellt, kann man etwas mehr von einem Lebensmittel essen, das diesem Mangel entgegen wirkt.

Zum Beispiel?

Gehen wir von einer geschwollenen Zunge aus, würde ich empfehlen, vier bis sechs Wochen lang verstärkt Apfel, Kohl, Hirse und rote Beete zu konsumieren. Oder wenn jemand eine rote Zunge, hat, die ein Zeichen für zu viel Hitze im Körper ist, sollte man scharfe Gewürze wie Chili oder Ingwer und Genussmittel wie Kaffee und Alkohol meiden. Menschen mit einer roten, zittrigen Zunge leiden oftmals unter Schlafstörungen, und da kann es schon helfen, den Kaffeekonsum deutlich zu reduzieren – auf ungefähr eine Tasse pro Tag.

Was erleben Sie außerdem häufig in Ihrer Praxis?

In letzter Zeit sehe ich viele Patientinnen und Patienten, die sich mit Ingwer überdosieren. Sie haben gehört, dass Ingwer gut für die Gesundheit sei, und essen ihn täglich – in Form von Ingwerwasser oder Ingwer-Shots. Aber Ingwer trocknet den Körper aus. Und nicht nur das. Ein Genuss von ungefähr mehr als drei Gramm Ingwer pro Tag und über Monate hinweg, kann zu Entzündungen an den Gelenken führen. Das schmerzt und verursacht langfristig Schäden.

Das wissen vermutlich die wenigsten Menschen.

Genau. Ebenso sollte man mit Gewürztees vorsichtig sein. Denn alle oder viele Gewürze entfalten eine Wirkung im Körper, sie können ihn stark austrocknen. Deshalb sollte man besser nicht kannenweise solche Gewürztees trinken, sondern lieber auf neutrale Kräuter wie Kamille setzen. Wobei auch hier wichtig ist, zu variieren, da Kamillentee zu Sodbrennen oder Gastritis führen kann. Eine Alternative zu Tee und Kaffee ist abgekochtes, warmes Wasser.

Was ist mit Milchprodukten? Die kommen in der asiatischen Küche kaum vor.

Milchprodukte wirken verschleimend, was sich an einen entsprechendem Belag auf der Zunge äußert. Und diese Verschleimungen können dazu führen, dass das Chi, die Lebensenergie, nicht richtig zirkuliert. Husten, Allergien und anfällige Bronchien sind mögliche Folgen.

Welchen Tipp haben Sie außerdem für eine rosige, gesunde Zunge?

Man muss auf das, was einem besonders gut schmeckt und vielleicht nicht so bekömmlich ist, weil es zu scharf, zu salzig oder zu süß ist, nicht verzichten, sich aber mäßigen. Dazu regelmäßig und warm essen, möglichst unverarbeitete, selbst zubereitete Nahrungsmittel. Wer so lebt, tut eine Menge für seine Gesundheit und hilft dem Körper, Krankheiten vorzubeugen.

Zur Person:

Hai Yen Hong

© Hai Yen Hong

Hai Yen Hong studierte an der Universität Essen Medizin und beschäftigte sich parallel in verschiedenen Aus- und Weiterbildungen mit der Naturheilkunde, beispielsweise an den chinesischen Universitäten Tianjin und Nanning. 2003 eröffnete sie eine Praxis in Oberhausen. Die Naturheilkunde kennt sie aus ihrer Kindheit. Sie hat mit ihrem Vater Kräuter gesammelt und getrocknet. Außerdem lernte Hai Yen Hong in ihrer Familie Akupunktur kennen – ihr Großvater und Vater behandelten Patientinnen und Patienten am Standrand von Hanoi mit der Therapie der Nadeln.

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